Tour-Tagebuch mit Silvan Dillier

11.07.2024

Der 33 Jahre alte Alpecin-Deceuninck-Profi führt während der Tour de France 2024 exklusiv Tagebuch auf Alpecin Cycling. Der Schweizer gewährt bei seiner fünften Tour de France-Teilnahme Einblicke ins Profi-Peloton.

11. Etappe Tour de France 2024: Rasende Fahrt durchs Zentralmassiv

Das war schon „fast and furious“ auf der heutigen elften Etappe. Es ging schnell los und wurde nie so richtig langsam. Ich bin einmal eine Attacke mitgegangen und war plötzlich in der Spitzengruppe. Das war grundsätzlich nicht der Plan. Wir sind dann für ein paar Kilometer vorne geblieben und ich habe sozusagen im „Vorbeigehen“ beim Zwischensprint noch siebe, Punkte mitgenommen. Aber wie so viele Gruppen vor uns sind wir auch wieder schnell eingeholt worden.

Ich glaube, in den ersten zwei Rennstunden hatten wir einen 47er-Schnitt. Wenn man bedenkt, dass da auch einiges an Höhenmeter dazu kam, ist das schon eine echt sehr sehr schnelle Fahrt gewesen. Die Etappe selbst hatte ja über 4300 Höhenmeter. Allerdings hat die Organisation diese Etappe, als hügelige Etappe deklariert – und nicht als Bergetappe, wenn man sich den Ausgang des Rennens anguckt, dann wundert einen das ein bisschen. Aber die Fahrer mache eben.

Diese Einordnung der Etappe ist auch der Grund, warum Roglic nach seinem Sturz in der gleichen Zeit klassiert wurde wie Remco, da die Drei-Kilometer-Regel angewendet wurde.

Alles in allem war das schon ein anspruchsvoller Tag. Wenn ich mir so die Zahlen anschaue, waren das knapp 6000 Kalorien, die ich umgesetzt habe. Und die Leistungswerte kann man schon fast mit einem Eintages-Klassiker im Frühjahr vergleichen. Von daher war das ein tougher Tag für alle. Für uns als Team lag der Fokus darin, ins Ziel zu kommen, damit wir so gut wie möglich wieder am Start von Etappe zwölf stehen.

10. Etappe Tour de France 2024: Sieg mit Ansage

Heute hat‘s geklappt! Wir haben bei dieser Tour unseren ersten Sieg eingefahren! Mitte der Etappe hat Jasper zu mir gesagt, dass er heute gewinnen wird. Da wusste ich, dass sein Selbstvertrauen nun da ist, wo es sein sollte, um in einem Sprint zu bestehen.

Und auch das Lead-out hat wieder phänomenale Arbeit geleistet, wie man ganz gut ach auf den Fernsehbildern sehen kann.

Für mich selbst war der Tag relativ easy. Wir mussten keine Spitzengruppe kontrollieren. Allerdings gab es einige intensive Momente im Kampf um eine gute Position als der Wind stark von der Seite blies. Jedoch ist nichts passiert.

Mein größter Effort war in der kleinen Abfahrt so rund sechs bis vier Kilometer vor dem Ziel. Die Durchschnittsgeschwindigkeit lag bei 80km/h und ich bin eine meiner besten 1-Minuten-Werte gefahren. Das find ich schon recht crazy, mit welchen Geschwindigkeiten wir hier mittlerweile unterwegs sind.

Ach – nur zur Info: Unsere Bärte haben wir schon vor zwei Tagen abrasiert. Hat ja nichts gebracht – außer „Pech“. Jetzt wo ihn alle abrasiert haben, haben wir gewonnen.

9. Etappe Tour de France 2024: Das erwartete Gravel-Spektakel

Solch schmale Gravelstraßen, wie wir sie heute gefahren sind, versprechen schon immer sehr viel Action. Es ist hier sehr schwierig, Positionen gut zu machen, da nur gut drei Fahrer nebeneinander fahren können. Und auch diese Fahrer haben dann teilweise Mühe, ihre Linie zu halten. Denn auf dem losen Untergrund lässt sich das Rad viel schwieriger steuern. So gab es dann auch den einen oder anderen Abschnitt, wo richtig loser Schotter lag, der auch mit ein Grund für Stürze war.

Auf dem zweiten Gravelabschnitt war das so extrem, dass einige Fahrer absteigen und hochrennen mussten. Nur die ersten Fahrer haben es geschafft, diesen steilen Abschnitt auf Kies zu überwinden. Die Fahrer direkt dahinter mussten absteigen, weil einige Fahrer vor ihnen ausgerutscht sind. Ich habe es zwar auch geschafft hochzufahren, war zu dem Zeitpunkt allerdings in der zweiten Gruppe. Wir haben es aber dann doch ziemlich schnell zur Favoritengruppe aufgeschlossen.

Aber dieser und auch weitere technisch anspruchsvolle Sektoren haben schon einige Teams vor spezielle Herausforderung gestellt. Und auch immer wieder besondere Situationen kreiert. Die einen Teams wollten Profit draus schlagen, während die anderen voll panisch dabei waren, eine Situation zu korrigieren.

Grundsätzlich ist der Speed auf solchen Abschnitten nicht extrem hoch. Aber das hängt immer auch vom Terrain ab. Wir hatten teilweise Abschnitte, die richtig steil hoch gingen, und andere, die sogar etwas abfallend waren. Beim Bergrunterfahren sind die Kurven auf losem Schotter natürlich schon eine echte Herausforderung mit diesen Reifen, die wir fahren. Da fühlen sich Fahrer wie Mathieu (van der Poel) oder Gianni (Vermeersch) als Cyclocrosser richtig wohl.

Bei uns im Team war das jetzt kein super Tag. Bei uns sind auf einen Schlag viele Fahrer zurückgefallen. Søren (Kragh Andersen) hatte Defekt. Jasper (Philipsen) auch. Robbe (Ghys) hat dann Jasper das Rad gegeben. Dann waren schon mal diese drei weg. Ricky (Jonas Rickaert) war blockiert an diesem Aufstieg, wo auf einmal alle zu Fuß gegangen sind, und Gianni war in der Spitzengruppe.

3. Etappe Tour de France 2024: Langer Riemen und neue Regeln

Die heutige Etappe war super lang. Dass am Anfang kein Fahrer in eine Spitzengruppe wollte, hätte man sich denken können. Bei 230 Kilometern hauptsächlich im Gegenwind tut man sich da keinen großen Gefallen. Vor allem, wenn man dann nur zu zweit oder zu dritt vorne unterwegs ist. Aber hätte sich da eine größere Gruppe formiert –  von vielleicht 10, 12 Fahrern -, wäre das für die Sprinterteams schon eine Challenge geworden, das Rennen zu kontrollieren und die Ausreißer wieder einzuholen.

So war es in diesem Sinne ein spezieller Tag ohne echte Spitzengruppe. Wir haben dann trotzdem angefangen, das Rennen zu kontrollieren und sind von vorne gefahren. Lidl-Trek ist in die Nachführarbeit miteingestiegen. Später kam dann noch Jayco AlUla dazu. Somit ging dann der Tag eigentlich unspektakulär über die Bühne, bis auf das Finale, das dann schon wieder ziemlich hektisch wurde. Und für uns natürlich auch nicht den optimalen Ausgang hatte durch den Sturz, in den Jasper Philipsen auch verwickelt war.

Neue Fünf-Kilometer-Regel im Finale

Auf dieser dritten Etappe wurde ja auch erstmals die klassische Drei-Kilometer-Regel im Finale auf fünf Kilometer ausgeweitet. Diese zwei Kilometer mehr machen keinen sehr großen Unterschied, finde ich. Meiner Meinung nach sollte diese Regel so viele Kilometer vor dem Ziel gesetzt sein, dass wenn ein Fahrer vor dieser Marke Defekt hat oder stürzt, er noch eine reelle Chance besitzt, wieder zurückzukommen. Liegt die Marke bei fünf Kilometern, ist das zu kurz. Denn wenn man bei 5,1 Kilometer einen Defekt hat, bekommt man in solch einem Finale keine Chance mehr, ins Peloton zurückzukehren. Das hat man auf der Etappe heute auch gesehen. Mathieu hatte einen Defekt, Bruno Armirail hatte einen Defekt. Die beiden hatten keine Chance, um noch mal nach vorne zu kommen. Von daher müsste meiner Meinung nach die Regel zehn Kilometer vor dem Ziel greifen. Wenn man dann 10,1 Kilometer vor dem Ziel einen Defekt hat, hat ein GC-Fahrer doch noch, so denke ich zumindest, eine reele Chance mit einer soliden Mannschaft wieder zurück ins Rennen zu kommen und keine Zeit zu verlieren.

Ausblick: Showdown am Galibier

Kurz noch ein Ausblick auf die echte erste Bergetappe über den Galibier: Da heute für die meisten Fahrer im Peloton ein angenehmer und ruhiger Tag war, glaube ich, dass die Gesamtklassementfahrer sich am Galibier nichts schenken werden und ihre Teams arbeiten lassen.

1. Etappe Tour de France 2024: Hitziger Auftakt mit Überraschungssieger

„Fiebrig – das beschreibt den Zustand wohl am besten, den auf der ersten Etappe viele Fahrer durchlitten haben. Wenn Du bei 40 Grad und mehr in der Sonne Hochleistungssport betreibst, dann kommt man in einen Zustand des Fiebers. Da kommt man kaum drumherum. Und jeder, der schon mal Fieber hatte, weiß, dass man da einfach in seiner Leistungsfähigkeit limitiert ist. Das fühlt sich an, als würde man mit angezogener Handbremse fahren. Mehr lässt der Organismus da einfach nicht zu. Das waren heute schon Extremstbedingungen, was man ja bei einigen Fahrern sehr sehr deutlich gesehen hat.

Bei mir lief es eigentlich ganz gut. Als Jasper (Philipsen) etwas rausnehmen musste, bin ich bei ihm geblieben, und habe geschaut, dass er safe ins Ziel kommt. Abe irgendwann war auch bei mir der Punkt erreicht, wo ich meine Mühe hatte mit der Hitze und etwas kämpfen musste.

Obwohl die Etappe von Vornherein nichts für uns war, habe ich dann doch am Ende besonders gefreut. Nicht weil die Schweiz gegen Italien im Fußball gewonnen hat, sondern weil Romain Bardet die Etappe gewann und das Gelbe Trikot geholt hat. Wir sind gleich alt, kennen uns daher seit der U23-Zeit und waren drei Jahre lang bei AG2R lLa Mondial Teamkollegen. Es ist schon spannend zu sehen, was er erreicht, wenn er nicht auf Gesamtklassement fährt, sondern auf Etappen. Was dann passiert: Da gewinnt er die Eröffnungsetappe der Tour und holt sich das Maillot Jaune. Das hätte er sich in den vergangenen Jahren, als er auf Gesamtklassement gefahren ist, auch gewünscht.“

Fotos: Stefan Rachow, Photonews.be