Vorschau Gravel-Weltmeisterschaften 2024: Interview mit Paul Voß
Der deutsche Gravel-Profi Paul Voss zählt zu den stärksten Fahrern weltweit in dieser Disziplin und gewann vor wenigen Wochen die Deutsche Meisterschaft im Gravelbiken. Bei den Gravel-Weltmeisterschaften 2024 in Flandern am kommenden Sonntag, 6. Oktober rechnet er sich gute Chancen aus, vorne im Feld zu landen.
Bei den Europameisterschaften im Jahr 2023 wurde er auf einem ähnlichen Kurs Dritter und holte sich die Bronze Medaille in dieser Disziplin. Im Interview mit Alpecin Cycling spricht Paul Voß über die Strecke, die Favoriten und seine Chancen.
Alpecin Cycling: Nach den starken Ergebnissen mit dem Deutschen Meister-Titel und dem zweiten Platz beim Seaotter in Girona stimmt die Form für die Weltmeisterschaften?
Paul Voß: Ja, ich bin seit mehreren Wochen schon auf einem sehr guten Niveau. Endlich, denn das ganze Frühjahr über war ich am Struggeln. Ich bin immer wieder krank geworden und habe das nicht so richtig in Griff bekommen habe. Insofern kann ich die ersten Monate des Jahres vergessen. Ich merke leider auch, dass es mit zunehmendem Alter länger dauert, bis man wieder auf einem sehr guten Niveau ist.
Du warst in dieser Saison auch nicht vor Defekten gefeit?
Allerdings. Zu meinen gesundheitlichen Problemen kam noch hinzu, dass ich so viel Materialpech hatte wie noch nie zuvor. Und dadurch waren viele Rennen für die Tonne wie zum Beispiel Houffalize oder Unbound. Ich rede da öffentlich nicht so viel drüber. Aber im Prinzip kam viel zusammen. Vergangenes Jahr hatte ich in der Hinsicht gar nichts.
Hast Du dafür eine Erklärung?
Die Schwierigkeit beim Graveln besteht darin, dass du nicht so viele Rennen fährst wie auf der Straße. Aber du musst unter „Volllast“ immer ein bisschen rumprobieren – sprich unter harten und widrigen Umständen, also im Wettkampf. Im Training funktioniert viel, was im Rennen in der Kombination dann zu Defekten führt. Komischerweise ist es nicht das eine oder andere Produkt oder Teil, sondern die Kombination beziehungsweise die Summe der Teile.
Beim Unbound habe ich zum Beispiel eine falsche Kombination aus Dingen gewählt, die ich so nicht mehr benutzen würde. Aber das ist halt ein Learning. Das kostet zwar in diesem Fall viel, aber es kann auch gut gehen. Man muss halt ein wenig rumprobieren. Im Training Dies und Das auszuprobieren ist zwar schön und gut, aber eine echte reine Rennbelastung kannst man da nicht simulieren.
Wenn Du Deine jetzige Form mit der vergleichst, die Du vergangenes Jahr bei den Europameisterschaften hattest. Wo stehst Du heute?
Wesentlich ist ein großes Wort, aber in dem Fall darf ich schon sagen, dass meine Form wesentlich besser als im vergangenen Jahr ist. Aber ich habe dieses Jahr auf die harte Tour lernen müssen, dass Dir das nichts bringt, wenn andere Dinge nicht funktionieren.
Beispielsweise die Deutsche Meisterschaft. Da stürze ich unzählige Male und mache mir so das Leben selber schwer. Aber ich bin auch immer wieder zurückgekommen und habe dann gespürt, dass mein Niveau sehr sehr hoch ist. Auch die Werte, die ich nach einer bestimmte Renndauer gefahren bin, waren so gut wie noch nie. In Girona beim Seaotter habe ich dann auch gesehen, dass die starken Straßenfahrer mich am Berg nicht abgehängt haben.
Allerdings sagt der Formzustand gar nichts im Hinblick auf den Rennausgang am Sonntag bei den Weltmeisterschaften aus. Wenn der Wettkampf normal verläuft und ich keinen schlechten Tag habe, werde ich bei einer EM und WM im Finale sein. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass dabei ein Top-Resultat herauskommt. Da spielen andere Faktoren eine Rolle.
Welche wären das?
Taktik und Material. Ich werde bei der Materialwahl auf jeden Fall Risiko eingehen. Das habe ich vergangenes Jahr bei den Europameisterschaften auch gemacht, als ich mit dem den 38 Millimeter breiten Schwalbe Pro One einen Straßenreifen gefahren bin. In welche Richtung das jetzt dieses Jahr geht, da muss ich noch schauen. Aber nur mit diesem Risiko, kann ich vorne reinfahren. Wenn ich ein konventionelles Setup wähle, bin ich auch da. Aber da habe ich da nicht diesen kleinen Vorsprung.
Zur Taktik gehört natürlich, die richtige Gruppe zu erwischen. In meinem Fall würde ich mir wünschen, dass es sehr selektiv wird und es ein wirkliches Ausscheidungsrennen gibt. Dass einfach die besten Fahrer vorne sind und es nicht so läuft, dass eine frühe Gruppe weg ist und dann muss ein großes Loch zugefahren werden.
Hast Du selbst auch Helfer im Rennen wie die großen Stars, die von der Straße kommen?
Ja, Roger Kluge kommt mit, um mir zu helfen. Der ist jetzt auch in Girona gefahren und war da auch ganz gut. Er kann solche Rennen fahren und ich werde jetzt auch noch mal mit ein paar anderen deutschen Fahrern sprechen, die schon signalisiert haben, dass wir uns zusammenschließen. Ich werde im Finale sicher auf mich alleine gestellt sein, aber auf dem Weg dahin glaube ich schon, dass wir uns gegenseitig ganz gut unterstützen können.
Wer zählt für Dich zu den Favoriten?
Ich finde es einerseits schwer sie zu benennen, andererseits ist es für mich selbst auch ein bisschen egal, da jeder potentiell gefährlich werden kann. Jeder dieser WorldTour-Fahrer, der das Rennen bestreitet. Gerade die Sprinter und Klassikerfahrer, die die Straßen-WM in Zürich jetzt nicht gefahren sind. Die bereiten sich schon auf solch ein Gravel-Rennen vor. Ich denk da jetzt vor allem an Tim Merlier und Jasper Stuyven, der im vergangenen Jahr auch Europameister wurde. Für mich muss entscheidend sein, dass ich vorne mit dabei bin und weiß, was geschieht, so dass ich agieren kann.
Mathieu van der Poel hat jetzt seinen Start auch fest zugesagt?
Ja, er ist der Mann, den es zu schlagen gilt. Er ist aber auch markiert. Seine Teilnahme könnte die Renndramaturgie auch entscheidend verändern, da viele auf ihn schauen. Vielleicht gibt mir das sogar die Chance, in eine Gruppe zu gehen.
Rechnest Du mit Team-Taktiken?
Weniger von den National-Teams. Die Niederländer haben angeblich alle eine Freikarte bekommen von ihrem Coach, Laurens Ten Dam und dürfen machen, was sie wollen. Das glaube ich aber nicht so richtig. Ich kann mir aber auch sehr gut vorstellen, dass die Fahrer aus den World Teams, auch wenn sie unterschiedlicher Nationalität sind, zusammenfahren beziehungsweise sich helfen. Da habe wir schon bei der ersten Gravel-WM mit Gianni Vermeersch und Mathieu van der Poel gesehen.
Bist Du den Kurs schon abgefahren?
Nicht komplett, aber in Teilen. Die Anfangsrunde um Halle führt zu Beginn recht tricky an einem Fluss entlang und soll einige Kopfsteinpflasterpassagen enthalten. Das weiß ich von Rosa Klöser. Das Verbindungsstück zwischen Halle und Leuven ist ein Mix zwischen Fahren auf Asphalt und Fahrten durch Parks und Wälder. Manchmal auch ziemlich technisch. Und die Schlussrunde um Leuven ist im Endeffekt ähnlich wie die Runde, die wir im vergangenen Jahr bei den Europameisterschaften gefahren sind. Wir fahren sogar durch den Bahnhof.
Es gibt viele Richtungsänderungen, die Offroad-Abschnitte sind teilweise sehr grob und bumpy – also mit tiefen Löchern. Wenn es trocken ist, dann wird es brutal schnell. Und wenn es nass wird, dann wird es ekliger, weil es dann schon schlammig-schmierig werden kann. Bei der EM war es ein Mix aus beidem. Aber wir fahren auch viel Straße. Trotz allem ist es noch ein Kurs, der Radbeherrschung und Fahrgefühl verlangt. Nur mit Druck in den Beinen wird man auch nichts.
Der WM-Parcours ist kein klassischer Gravelkurs, den man sich vielleicht selber bauen würde. Aber er spiegelt die Gegebenheiten in der Region wider. Daher halte ich solch einen Parcours auch durchaus legitim für eine so große Veranstaltung.
Du sprachst von technisch. Was bedeutet das?
Neben den ständigen Richtungswechseln stellt der lose Untergrund eine Herausforderung dar, da er schwer einzuschätzen ist. Du kannst nicht erkennen, ob Du gleich über Hardpack fährst oder über losen Untergrund. Das verlangt viel Fahrgefühl, gerade wenn Du viele schnelle Kurven durchfährst, die es hier gibt.
Klassische Gravel-Strecken auf echtem Schotter sind klarer ersichtlich, weil Du genau siehst, was Dich erwartet. Durch diese vielen Wechsel des Untergrunds zwischen Schotter, Kopfsteinpflaster, Waldweg, Matsch, ein bisschen Wiese, harte Traktorwege ist das schwer einzuschätzen. Man muss auch sehr genau auf die Linie achten. Ich würde es eher als ein langes Cross-Rennen bezeichnen mit Asphaltabschnitten. Ein flämischer Klassiker ist ja ähnlich. Da musst Du ja auch ständig gucken, was passiert. Und an welcher Position Du gerade auf welchen Abschnitt fährst, das ist im Gelände natürlich alles noch ein bisschen umfangreicher beziehungsweise tricky.
Also ist die Positionierung auch extrem wichtig für solch ein Rennen?
Natürlich, Du brauchst zwar einerseits Beine, aber wenn Du die Position nicht hast, dann wirst Du auch nichts.
Ist dieser Parcours aufgrund der Topographie besonders anspruchsvoll?
Es sind im Endeffekt – verglichen mit der Straße – Helllinge, die wir da hoch- und runterfahren. Die reichen in Summe aus, um eine Rennentscheidung herbeizuführen. Aber wir fahren jetzt in dem Sinne keine Berge hoch.
Es gibt auf der Schlussrunde einen Anstieg, der je nach Renndramaturgie gefährlich werden könnte. Der ist jetzt an sich nicht so wahnsinnig selektiv, aber danach geht es oben flach weiter. Das zieht sich etwas hin und danach geht’s in den Wald rein. In der Reihenfolge kann das schon hart werden.
Das war im Übrigen die Passage, in der es die Selektion bei der EM gab. Aber von da aus, ist es noch weit ins Ziel und auf der Anfahrt zum Ziel gibt es noch so viele Kurven und Richtungsänderungen. Auf jeden Fall ist es ein sehr interessanter Kurs. Ich freue mich da schon wirklich drauf, aber das wird für den Kopf auch megaschwer, da man die ganze Zeit on point sein muss.
Was rechnest Du Dir aus?
Ich weiß, dass ich auf diesem Kurs sehr gut fahren kann, dass mir diese Rennen liegen. Aber ich weiß auch, dass ich diesen Speed in den Beinen, den die World Tour Profis haben, nicht erzeugen kann. Ich bin nicht in der Lage alleine wegzufahren. Ich wiege halt nur 65 oder 66 Kilo und da kann meine Schwelle noch so gut sein. Da lachen die anderen drüber. Wenn die 10 bis 15 Kilo mehr wiegen, dann fällt es denen natürlich viel leichter, da einfach mal loszufahren. Das sind alles Faktoren, die man nicht vergessen darf.
Die Fahrer, die hauptsächlich vorne reinfahren, werden aus der World Tour kommen. Die bestreiten halt in der Zeit Grand Tours, in der ich trainiere. Daher haben sie eine ganz andere Reisegeschwindigkeit als ich. Ich merke es hin und wieder, wenn ich zweimal im Jahr Straßenrennen fahre, wie gut mir das tut. Von daher bin ich dann schon realistisch. Aber ich versuche natürlich, trotzdem das Beste rauszuholen und im vergangenen Jahr ist mir das ja bei der Europameisterschaft ganz gut gelungen.
Die Chance für mich am Ende vorne mitanzukommen, funktioniert aber nur, wenn ich Teil der Spitzengruppe bin. Oder aber wie bei der EM, dass es ein komplett selektives Rennen gibt und am Ende alle eh „tüten zu“ sind. Aber um vorne dabei zu sein, gehört natürlich auch ganz viel Intuition dazu, im entscheidenden Moment das Richtige zu machen. Aber ich habe gerade kein Szenario vor Augen, dass mir zeigt, wie ich gewinnen kann.
Wo siehst Du die Vorteile für euch Gravel Profis gegenüber den klassischen Straßen-Profis?
Ich glaube, den einzigen Vorteil, den wir Gravel-Profis haben ist, dass wir im Fall der Fälle bei einem Defekt einfach mehr Routine haben. Uns liegt vielleicht das Improvisieren etwas besser, aber sonst bietet uns dieser Kurs nicht wirklich Vorteile.