Lene Vosberg erfüllt sich ihren ganz persönlichen Radtraum
Wir schaffen das! Da bin ich (Ride Captain Lene Vosberg) mir jetzt ganz sicher – in dem Moment als wir den Brenner-Pass sowie die österreichisch-italienische Grenze überfahren und in Italien sind. Die allerletzten Zweifel, die ich überhaupt noch hatte, sind wie weggeblasen.
Ich merke, es sind noch Körner übrig. Die Steigung als Anstrengung liegt hinter uns. Jetzt geht es „nur“ noch um Strecke, und dass wir das auf jeden Fall packen werden.
Eine innere Wärme überkommt mich, wohl auch ausgelöst durch den Espresso, den wir hier kurz hinter der Grenze auf der italienischen Seite; wenig stilecht aus Pappbechern trinken.
Der Brenner – zugleich auch der höchste Pass auf unserem Trip zum Gardasee. Heute morgen sind wir in München gestartet zu meinem Abenteuer. Zu einem Traum, den ich in den vergangenen Jahren immer mal wieder hatte und ihn mir aber bislang nicht erfüllt habe. An einem Tag von München an den Gardasee zu fahren – aus eigener Muskelkraft. Ein Alpencross an einem Tag.
Warum? Der Gardasee ist für eine Münchnerin wie mich auch so eine Art zweite Heimat. Und hierher fahren wir Münchner mit dem Auto, ich bin aber auch schon ein paarmal hier geradelt. Allerdings dann immer in mehreren Tagesetappen. Doch heute will ich es in einem Rutsch schaffen.
Damit das aber kein Himmelfahrtskommando wird, habe ich mir dafür Unterstützung geholt. Meine zwei Freunde Steve und Moritz begleiten mich genauso wie Rike, ein Alpecin Ride Captain – genauso wie ich. Doch das ist nur der sportliche Teil unserer Crew. Damit uns es uns an nichts fehlt, begleiten uns fleißige Helfer und Mechaniker in Begleitfahrzeugen. Sie geben uns physikalisch keinen Windschatten, dafür aber moralisch und energetisch.
Das Video by Sebastian Bentzin
Doch zurück auf Anfang! Um 2:30 Uhr bin ich heute morgen schon mit einem Lächeln aufgewacht. Auch wenn ich nur vier Stunden geschlafen habe, selten habe ich mich so sehr gefreut aufzustehen und solch einen Tag erleben zu dürfen.
Gestartet sind wird dann zu unserer Abenteuer-Tour um 3:50 Uhr – mit 20 Minuten Verspätung. Eigentlich war 3:30 Uhr abgemacht. Aber wir wussten, alle dass es ein langer Tag im Sattel werden würde, und so haben wir uns beim Frühstück dann doch etwas Zeit gelassen. Vom Motel One in München-Giesing ging es geradewegs raus aus der Stadt in Richtung Alpen. Nach weniger als 2 Stunden Fahrzeit und 48 Kilometer war Bad Tölz erreicht – im Morgengrauen. Morgengrauen was für ein Wort. Es umreißt nicht im Geringsten, was für eine unglaubliche Stimmung sich uns bot, als wir in den Sonnenaufgang hineinfuhren.
Das wahnsinnige Lichtspiel am Himmel mit den unterschiedlichen Farben – weiß, violett, gelb, blau, grau – und die immer wärmer werden die Luft beflügelten uns gerade zu und ließen uns einen Gang höher schalten.
Ich bin schon öfter so früh aufgestanden, da ich in vorigen Jobs Sonnenaufgangstouren auf Berggipfel begleitet habe. Das erinnerte mich daran. Ich liebe diese Stimmung in der Früh, wenn es noch ganz still und ruhig ist, ich selbst aber schon aktiv bin, und einen kleinen „Vorsprung“ habe gegenüber einer Umwelt. Daher genoss ich diesen Teil in der Früh ganz besonders.
In Lenggries bei Kilometer 68 wurden wir dann tierisch und mit Geläut begrüßt. Kühe wurden über die Straße zur Wiese getrieben und geleiteten uns einige hundert Meter.
Was folgte, die erste Frühstückspause. Kohlenhydrate bunkern und Durst löschen. Wasser hatten wir auch satt vor Augen – und zwar erst der Achensee und dann Sylvensteinsee – beides wirkte unglaublich beruhigend auf mich und abgelenkt von der Kulisse, knackten wir so nebenbei die 100-Kilometer-Marke.
Obwohl wir vorher noch nie in diese Konstellation zusammenfuhren, harmonierten wir perfekt und stellte uns gut aufeinander ein. Die Kilometer verflogen auf unserem Weg durchs Inntal – auf Innsbruck, wie der Bayer so schön sagt. Zusätzlich Rückenwind gab das zweite Frühstück mit selbstgebackenen Zimtschnecken und Bananen-Brot, Nutella, Gummibärchen – alles durcheinander. Ich habe noch nie so viel und so gerne gegessen, um meine Kohlenhydratspeicher wieder zu füllen.
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Obwohl wir schon knapp 150 Kilometer und seit knapp sieben Stunden unterwegs waren, von Müdigkeit keine Spur. Weder bei den anderen noch bei mir. Der Brenner stand bevor. Rund 30 Kilometer bergauf kein großartiger Alpenpass, aber auch nicht zu unterschätzen mit dieser „Vorbelastung“. Auf der alten Brennerstraße kämpften wir nicht nur mit den 800 Höhenmetern, sondern auch mit heftigem Gegenwind.
Hier war jeder von uns ein klein wenig mehr bei sich – die Gespräche wurden weniger. Wir haben aber nie das Teamplay aus den Augen verloren, sind stets zusammengeblieben, haben uns gepusht und im Wind vorne abgewechselt. Auch wenn die Absprache war, jeder fährt sein Tempo, und zur Not treffen wir uns oben. Aber das war gar nicht nötig.
Bella Italia – Land der Träume und der Sehnsucht. Hier oben auf dem Brenner sind wir nun bereit, die zweite Hälfte meines Abenteuers in Angriff zu nehmen. 185 Kilometer liegen hinter uns. In etwas dasselbe müssen wir noch absolvieren, um unser Quartier in Riva del Garda zu erreichen. Und tendenziell geht es ab jetzt nur noch bergab.
So meine Vorstellung – doch ich habe nicht mit der Ora gerechnet. Dieser Wind, den die Surfer so lieben, aber die Radfahrer, die Richtung Süden unterwegs sind, hassen. Er bläst nämlich das gesamte Etschtal hinauf und schon in den ersten Kehren bergab spüren wir ihn unbarmherzig. Trotz einem Gefälle von vier bis sechs Prozent müssen wir drauftreten, um bergab eine angenehme Reisegeschwindigkeit zu erreichen.
Die nächsten 100 Kilometer über Sterzing, Brixen nach Bozen kosten Körner. Kurz vor dem planmäßigen Pizzastopp müssen wir anhalten. Es sind zwar nur noch 10 Kilometer bis dorthin, aber bei keinem von uns läuft es mehr so richtig rund. Wir sind kaputt und durstig. Unsere Muskeln schreien nach Zucker, unsere Kehlen nach Flüssigkeit. Sarah, eine unserer Helferinnen aus dem Orgateam, versorgt uns mit Snickers, Cola, Wasser und Energiegels. Ein wenig frustrierend ist auch, dass wir wissen, den Gardasee nicht bei Helligkeit erreichen zu können.
Die zehn Kilometer bis zur Pizzeria rollen wir mehr als dass wir pedalieren. Müdigkeit macht sich breit, die nur vier Stunden Schlaf in der Nacht verursachen Kopfschmerzen und die ständige Konzentration auf die Straße, Schlaglöcher, die Waden des Vordermannes und das Weitergeben der Zeichen im Team, zollen ihren Tribut.
Unglaublich, wie schnell die Stimmung kippen kann. Eben noch gut gelaunt druckvoll pedalierend, jetzt nachdenklich, müde und kraftlos. Da sage noch einer, Körper und Geist gehören nicht zusammen.
Aber Pizza sowie Lemon-Soda und Small-Talk mit der Crew in Bozen machen alles wieder wett. Die Lebensgeister kehren zurück. Die Krise scheint überwunden. Gestärkt geht es auf die letzten rund 100 Kilometer. Doch so einfach machen es uns die Gewalten dann doch nicht: Nach dem Wind setzt auch noch Regen ein. Wir auf dem Radweg, die Begleitfahrzeuge auf der Straße – also weiter gegen Wind und Wetter.
Tiefhängende Wolken, einbrechende Dämmerung und nasser glatter Asphalt – eine wenig vielversprechende Kombination für ein grandioses Finale. Das alles zwingt uns eine Entscheidung treffen zu müssen – folgenschwer wie sich im Nachhinein herausstellt. Jeder von uns vieren hat jetzt in diesem ein anderes ganz eigenes Bedürfnis – von möglichst schnell trocken und sicher ankommen, über die Diskussion so kurz wie möglich anzuhalten und eher eine Entscheidung zu treffen und das durchzuziehen, bis hin zu, sich mit dem Team in den Fahrzeugen noch genauer abzusprechen, dass wir nicht zu sehr in Eigenregie verfallen.
Wir folgen ab jetzt nicht mehr unserer vorher geplanten Route zurück auf die Straße, weil uns das zu gefährlich erscheint, sondern bleiben auf dem Radweg. Zu allem Unglück machen einige Navis schlapp und der Verbindung via Smartphone mit den Begleitfahrzeigen läuft auch ein ums andere Mal ins Leere.
Ich zweifle ein wenig. Nicht, ob wir es schaffen, sondern ob ich mich nicht auf solche Eventualitäten hätte besser vorbereiten sollen. Also in der Vorbereitung die Strecke zu checken, Alternativen zur Route besser im Kopf zu haben, um für den Fall der Fälle schnell und sicher während der Fahrt Entscheidungen zu treffen und nicht nur blind dem Navi vertrauen zu müssen. Ach ja – und ein Powerbank fürs Navi und Smartphone mitzunehmen bzw. an jedem Stopp die digitalen Helferlein aufladen.
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Es ist jetzt kurz nach neun Uhr abends; wir cruisen bis auf die Haut durchnässt durch die finstere Nacht – vier Sportler, ein Ziel. Das motiviert mich, trotz der widrigen Bedingungen. Und Schmerzen spüre ich keine, obwohl ich weiß, dass meine Beine längst leer sind. Aber ich kann den Moment, in dem der Kopf sagt, „es geht nicht mehr“, so viel weiter rauszögern als ich es selbst gedacht hätte. Diesen mentalen Tunnel so lange aufrechtzuerhalten, bis man wirklich am Ziel ist, ist schon erstaunlich.
Während ich darüber nachdenke, mich dabei auf meine Vorderleute konzentriere– reißt mich die Fanfaren-Hupe unseres Begleitfahrzeugs aus meinen Überlegungen. Wir sind wieder „in touch“ mit unserem Organisationsteam. Kurzer Klamottenwechsel, letztes Ausfüllen der Flaschen und das gefühlt hundertste Snickers – das Finale kann kommen.
Wenige Kilometer später ist es aber dann um mich geschehen. Tränen fließen unkontrolliert, als ich erstmals das Schild mit „Riva del Garda – 30 Kilometer“ sehe. Jetzt realisiere ich tatsächlich, dass wir es schaffen. Der Gedanke war vorher schon auch da, aber jetzt lasse ich ihn das erste Mal zu. Jetzt erlaube ich meinem Körper auch das erste Mal, zu sagen, wie es ihm wirklich geht. Wie fertig und kaputt ich wirklich bin. Ein paar Minuten sinniere ich und weine leise vor mich hin. Keiner sieht es.
Ich muss mich aber wieder fokussieren, sonst verliere ich die Konzentration. Das gelingt, indem ich mich auf jede Pedalumdrehung konzentriere. Ich bin wieder „zurück“ und nur wenige Minuten später sehe ich die Lichter von Riva del Garda vor uns. Eskortiert von unseren Begleitfahrzeugen erreichen wir den See – überglücklich um Punkt 23 Uhr nachts fallen wir uns alle in die Arme. Seit dem Start in München sind nach 19 Stunden und 10 Minuten vergangen. Mein Traum ist Wirklichkeit geworden. Aber realisieren kann ich das jetzt noch nicht.
Das ist mir erst gelungen als ich diesen Text geschrieben habe. Danke an alle, die das möglich gemacht haben.
Auch wenn ich kein Zahlenmensch bin, hier die Ausbeute unseres Alpencross‘ an einem Tag: 392 Kilometer, 3100 Höhenmeter, 26,8 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit, 14:45 Stunden reine Fahrzeit, 8 Pausen
12 Zimtschnecken, 1 Bananenbrot, 10 Käsesemmeln, 4 Butterbrezen, 5 Pizzen, 50 Liter Wasser, unzählige Gummibärchen, 21 Gels, 25 Riegel, zu wenig Espresso, durchschnittlich 5600 Kalorien für jeden von uns und den besten Aperols unseres Lebens bei der Ankunft.
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