Profi-Analyse und Rückblick auf die erste Woche der Tour de France 2020
Stephan Schreck, Ex-Radprofi und Gewinner der Mannschaftswertung der Tour de France 2005, analysiert die erste Woche der Tour de France und gibt einen Ausblick auf die kommenden Etappen.
Rückblick und Analyse der ersten Woche der Tour de France 2020
„Primož Roglič in Gelb! Jumbo-Visma hat also alles richtig? Zumindest ist ihr Plan aufgegangen und ihr Leader ist vorn. Präsentiert hat sich das Team ab Etappe zwei als ob sie schon in Gelb fahren würden. Die Frage ist nur, kann das Team diesen Kraftakt durchziehen und wie stark ist der Slowene in Woche zwei und drei. Ich frage mich auch, ob es nötig war, auf der ersten Pyrenäenetappe Tom Dumoulin zu opfern, da Roglič lediglich kontrolliert hat und nicht selbst attackiert hat.“
Kampf ums Gelbe Trikot zwischen Roglič, Bernal und Pogačar
„Auch wenn Roglič mit 21 Sekunden vor Vorjahressieger Egan Bernal liegt, so kamen beide in der Nullzeit ins Ziel. Will heißen: Die 21 Sekunden sind allein aufgrund von Bonussekunden entstanden. Einen „echten Abstand“ hat Primož Roglič nicht herausgefahren.
Für mich ist daher das Team Ineos Grenadier und sein Leader auch nicht abgeschrieben. Bernal hat bei der Tour 2019 gezeigt, dass er die Strapazen gut wegsteckt und gegen Ende stärker wurde. Ich sehe auch keinen schwächelnden Teamkollegen. Auf der Windkantenetappe waren sie vorne dabei, ein anderes Mal haben sie selbst eine angezettelt und in den Bergen sind sie ressourcenschonend gefahren. Wenn Bernal angreift oder sich gar Gelb holt, werden die Helfer wie Michał Kwiatkowski auch noch ein paar Prozent drauflegen – dessen bin ich mir sicher.
Der dritte für Gelb in Paris im Bunde ist für mich nach den beiden Pyrenäenetappen Tadej Pogačar. Der junge Slowene vereint Kletterstärke und Spritzigkeit. Wäre er der Windkante auf Etappe 7 nicht zum Opfer gefallen, läge er auf Platz zwei der Gesamtwertung.
Unauffällig unterwegs und immer noch in Schlagdistanz liegen für mich Rigoberto Uran, Mikel Landa und Romain Bardet. Mit einer cleveren Attacke können sie es aufs Podium schaffen. Besonders Uran kann aufs abschließende Zeitfahren hoffen.“
Marc Hirschi und Wout Van Aert– Ausnahmeathleten
„Ein ehemaliger Teamkollege hat mich schon vor einigen Jahren auf Marc Hirschi aufmerksam gemacht. Er hat nicht zu viel versprochen. Bei Etappe zwei geht de junge Schweizer im entscheidenden Moment mit Julian Alaphilippe mit und verpasst den Etappensieg nur knapp. Eine Woche später fährt er ein irre langes Solo und hat Pech, dass ausgerechnet Roglič & Co. Zeit zwischen sich und die nächsten Verfolger bringen wollen. Doch wie abgezockt er sich einholen lässt und dann noch den Sprint eröffnet, war schon stark.
Sprinten und Berg fahren – diese Kombination wie bei Wout van Aert habe ich bisher noch bei keinem Fahrer so gesehen. Am Berg schlägt der Belgier ein derart hohes Tempo für seinen Kapitän Roglič an, dass andere kletterfeste Helfer hinten rausfallen. Und kommt es zum Sprint, hält er voll rein und gewinnt – wie auf Etappe 5 und 7. Hätte er einen Freifahrtschein, wäre er ein Mann für Grün.“
Peter Sagan und das Grüne Trikot
„Der Slowake wird am Ende in Paris Grün tragen, wenn er nicht stürzt. Davon bin ich überzeugt. Er ist bei jedem Sprint mit dabei – auch ohne Helfer. Er fährt clever in die richtige Position, ist zwar nicht mehr der Spritzigste, aber immer noch für eine Top fünf-Platzierung gut. Zudem kommt er geschmeidig die Berge hoch – und – ja ich weiß eine Binse – bis Paris ist es noch weit.“
Emanuel Buchmann und die Gesamtwertung
„Wie ich gehört habe, will man nach der ersten Woche bei BORA-hansgrohe jetzt eher auf Etappensieg fahren. Gelegenheit dazu gibt es in den nächsten zwei Wochen genug. Entscheidend wird sein, wie gut die Wunden bei Emanuel Buchmann, Max Schachmann, Gregor Mühlberger und Lennard Kämna verheilen. Doch Buchmann könnte nochmal viel Zeit gut machen, wenn er bei einer längeren, schweren Etappe 50 bis 60 Kilometer vor Ziel angreift. Aufgrund seines Zeitrückstands werden die großen Teams der Führenden nicht zwingend mitgehen und so bekommt er eine Art Freifahrtschein. Ich würde daher eine Top Ten-Platzierung für ihn noch nicht abschreiben.“
Vorschau auf die zweite Woche der Tour de France 2020
„Jumbo-Visma wird versuchen das Gelbe Trikot zu verteidigen. An ihrer Fahrweise wird sich im Vergleich zur Woche eins wenig ändern. Dort haben sie bis auf sehr wenige Ausnahmen auch die Verantwortung im Feld übernommen.
Ich glaube, dass die Fahrer einen unruhigen ersten Ruhetag hatten. Nicht wegen der Corona-Tests oder Pressetermine, sondern wegen des Blicks nach draußen und auf das Roadbook. Denn all das verspricht Wind. Besonders die Etappe am Dienstag am Meer entlang sowie die Etappe am Mittwoch könnten dem einen oder anderen die Chancen auf den Etappensieg „verwehen“ – oder auch wieder einen Klassementfahrer „verblasen“. Die längste Etappe der Tour steht am Donnerstag mit 218,5 Kilometer an. Eine Sache für eine Ausreißergruppe mit kletterfesten Puncheuren.
Am Freitag folgt die dritte Bergankunft dieser Tour – doch nicht allein der zweigeteilte Schlussanstieg ist explosives Terrain. Die Etappe ist durch ihr ständiges Auf und Ab nur schwer zu kontrollieren. Wer sich von den Klassementfahrern gut fühlt und für sich eine gute Taktik – „Stichwort Relasisstation“ – zurechtgelegt hat, kann hier auch schon 60 Kilometer vor Ziel attackieren. Samstag dann der Tag für Puncheure a la Sagan, Van Avermaet, Trentin & Co. mit zwei Kategorie-vier-Anstiegen auf den finalen 12 Kilometern.
Doch das Beste kommt in Tourwoche zwei zum Schluss: Am Sonntag wartet eine Bergankunft mit Ziel am Gipfel des Grand Colombiere. Die Messer werden gewetzt – knapp 18 Kilometer bergauf bieten genug Platz für Attacken. Wer All-In geht, kann den darauffolgenden Ruhetag nutzen, um sich zu erholen.“
Fotos: © Roth-Fotos