Analyse der zweiten Woche der Tour de France 2020 vom Profi

14.09.2020

Stephan Schreck, Ex-Radprofi und Gewinner der Mannschaftswertung der Tour de France 2005, analysiert die zweite Woche der Tour de France und gibt einen Ausblick auf die kommenden Etappen in den Alpen und den Showdown beim Bergzeitfahren am Samstag.

Der gelbe Zug von Jumbo-Visma macht die Pace

„Beeindruckend für mich war in der zweiten Tour-Woche wie sich die Teams Jumbo Visma und BORA-hansgrohe präsentiert haben und wie das Team Sunweb – allen voran Marc Hirschi – agiert und im positiven Sinne Siege erzwungen hat.

Das niederländischen Team Jumbo-Visma um den momentan führenden Primož Roglič zeigte bislang keine Schwäche und ist gerade auf der letzten Bergetappe am Sonntag vorbildlich gefahren. Im Schlussanstieg waren beim Träger des Gelben Trikots noch insgesamt vier Helfer, bei Egan Bernal oder Mikel Landa lediglich noch zwei. Aber auch die Art und Weise wie die Gelben um Gelb fahren und wie sie dem Gegner im Endeffekt ihren Willen, sprich ihre Stärke, aufzwingen, zeugt schon von ihrer Klasse. Ob das Tony Martin ist, der gefühlt 100 Kilometer von vorne fährt; Wout van Aert, der als Sprinter am Berg die Kletterer abhängt; oder Tom Dumpulin, der als Zugmaschine die besten Bergfahrer in die Einerreihe zwingt und so Attacken vereitelt.

Dass das Niveau der diesjährigen Tour sehr hoch ist und Roglič und Pogačar sehr stark sind, zeigt der Fakt, dass sich ein Fahrer wie Alejandro Valverde, auf den letzten 500 Metern des Anstieges zum Grand Colombier 24 Sekunden Rückstand einhandelt.

Kritiker, die sagen, sie hätten hier eine Attacke der Konkurrenten erwartet, sei erwidert, dass das bei dem Tempo, das Tom Dumoulin anschlug, schlicht nicht mehr möglich war.

Jedoch ist der Kampf um Gelb noch nicht entschieden. Zu knapp ist der Abstand zwischen Roglič und Pogačar. Und Pogačar wirkt einen Tick spritziger. Es wird spannend werden, wer von den zwei Slowenen beim finalen Bergzeitfahren hinauf zur Planche des Belles Filles stärker ist, sofern die beiden bis dahin weniger als eine Minute trennt. Ich sehe Tadej Pogačar hier ein wenig im Vorteil, da er in dieser Disziplin Slowenischer Meister wurde – vor Primož Roglič.“

Duell zwischen Primož Roglič und Tadej Pogačar um Gelb

„Ich glaube nicht, dass Pogačar auf den folgenden drei Alpenetappen taktieren und versuchen wird, den zweiten Platz abzusichern. Er wird attackieren, wenn sich ihm die Chance bietet, und versuchen einen Angriff auf Gelb zu lancieren.

Jetzt komme ich zur einzigen Kritik, die man an der Taktik des Teams Jumbo-Visma haben kann: Das opfern von Tom Dumoulin auf der Pyrenäenetappe nach Loudenville am Col de Peyresourde. Ich habe das bereits in meiner ersten Analyse vor einer Woche angesprochen. Mit einer etwas defensiveren Fahrweise an diesem Tag, wäre Dumoulin immer noch in Schlagweite zu Gelb und wäre zumindest eine taktische Option. So liegt der Niederländer, der 2017 den Giro d’Italia gewonnen hat, bereits über fünf Minuten zurück.

Für alle anderen Fahrer von Platz drei bis hin zu Platz zehn, wird es eher darum gehen auf Podium zu fahren. Enric Mas von Movistar zum Bespiel zeigt eine aufstrebende Tendenz. Er hat sich von Etappe zu Etappe verbessert. Ganz im Gegensatz zu Nairo Quintana (Akea-Samsic) oder auch Egan Bernal.

Gerade für Bernals Team Ineos-Grenadier wird es jetzt darauf ankommen, ob sie in der Lage sind, ihre Taktik zu ändern. Sie sind mit einem einzigen Ziel zur Tour gekommen: Die Wiederholung des Vorjahrestriumphs. Jetzt aber sind andere Qualitäten in der letzten Woche gefragt. Die Frage ist, ob ein Helfer der fünf Jahre nichts anderes gemacht hat, als einen Kapitän beim Grand Tour-Sieg zu unterstützen, sich hier psychologisch so schnell umstellen kann.“

Stephan Schreck, Team T-Mobile, bei der Tour de France 2005

Neue Strategie bei BORA-hansgrohe

„Wer das meines Erachtens unglaublich gut geschafft hat, ist das deutsche Team BORA- hansgrohe. Nachdem Emanuel Buchmann aufgrund seiner Verletzungen, die er sich bei der Dauphine zugezogen hatte, nicht in der Lage war, im Gesamtklassement vorne mitzufahren, hat das Team seine Strategie komplett geändert. Sie versuchen jetzt, für Peter Sagan das schon weit enteilte Grüne Trikot zurückzuholen und den anderen Fahrern wie Max Schachmann und Lennard Kämna die Chance auf einen Etappensieg zu ermöglichen.

Wie das Team diese taktischen Marschrouten umsetzt, ist schon unglaublich stark. Zudem manchen das Rennen schnell und schwer zu kalkulieren. Durch diese Tempoverschärfungen im hügeligen Gelände, um beispielsweise Sam Bennett, den Träger des Grünen Trikots, abzuhängen oder das Fahrerfeld geschlossen zum Zwischensprint zu bringen, entstehen immer wieder neue Rennsituationen. Die klassischen Ausreißer wie Voigte & Co., die früher erfolgreich waren, scheint es in dieser Tour nicht zu geben. Noch ein Wort zu BORA-hansgrohe. Wie Emanuel Buchmann sich jetzt in den Dienst der Mannschaft stellt, egal ob für Peter Sagan, Maximilian Schachmann oder Lennard Kämna zollt von seiner Klasse und Persönlichkeit. BORA-hansgrohe befolgt das im Radsport so wichtige Motto: alle für einen, einer für alle. Genau das macht ein Team aus. Ich hoffe, dass sie auch in der Schlusswoche belohnt werden.“

Vorschau auf die dritte Woche der Tour de France 2020

„Apropos Schlusswoche. Es gab ja bekanntermaßen nicht viele Rennen vor dieser Tour und übertragen auf normale Zeiten würde die Tour de France im Februar beziehungsweise März stattfinden. Ich bin ehrlich gesagt gespannt, wie die Fahrer diese dritte Tour-Woche physiologisch verkraften. Wer kann hier eher noch eine Schippe drauflegen, wer verliert an Form beziehungsweise ist nicht mehr in der Lage vorne mitzufahren. Es wird noch die eine oder andere größere Überraschung geben.

Die kommenden drei Etappen in den Alpen sind alles andere als leicht.  Am Mittwoch gibt es zwar nur zwei Bergwertungen, aber beide gehören zur höchsten Kategorie. Es geht erst auf den Col de la Madeleine und danach auf den für die meisten Fahrer noch im Rennen unbekannten Col de la Loze – mit 2304 Metern das Dach der Tour. Nicht nur die Länge und Steilheit, sondern auch die Höhenlage, in der sich die Fahrer dann bewegen, könnte für die Performance entscheidend sein. Doch selbst danach wird das Klassement auf den vorderen Plätzen noch nicht in Stein gemeißelt sein. Denn am Donnerstag folgt noch eine weitere Alpenetappe, die zwar nicht auf einem Gipfel endet, aber immerhin mit vier schweren Anstiegen gespickt ist. Und dann am Tag vor Paris der Showdown in den Vogesen – beim Bergzeitfahren.

Noch ist nichts entschieden! Ich bin gespannt.

Viel Spaß beim Zuschauen

Euer Schreckus“