Tour de France-Tagebuch von Michael Gogl & Silvan Dillier

10.07.2023

Tour inside! Die beiden Team Alpecin-Deceuninck-Profis Michael Gogl und Silvan Dillier führen während der Tour de France 2023 ein Tagebuch auf Alpecin Cycling.

9. Etappe:  Emotionaler Start und Einsamkeit am Puy de Dome

von Michael Gogl

Es war schon sehr cool, mit dem speziellen Skinsuit zu Ehren von Raymond Poulidor zu fahren. Für Mathieu war das natürlich noch viel emotionaler, im Wohnort seines verstorbenen Großvaters zu starten. Das war schon eine spezielle Etappe für ihn und eine schöne Geschichte – abseits des Sports.

Der Puy de Dome ist ein steiler Berg! Wenn es heiß ist, ist er noch steiler – gefühlt jedenfalls. Und es war verdammt heiß am Sonntag. Er steht mächtig und alleine da. Ein kleiner Mont-Ventoux-Verschnitt.

Bei allen Strapazen an diesem Tag empfand ich es ganz angenehm, die finalen vier Kilometer ohne Fans hochzufahren, die dort ja nicht hindurften. Um es klarzustellen: Wir lieben die Fans, denn sie teilen die Begeisterung für diesen Sport. Aber wenn man an solch einem Tag vier Kilometer zusätzlich Trillerpfeifenkonzerte, Anfeuerungsschreie und was nicht noch alles auf die Ohren bekommt, kann das auch ganz schön wehtun im Gehörgang. So habe ich die Einsamkeit auf den finalen vier Kilometern echt genossen.

Alles in allem war es im Sattel ein schwerer Tag, auch weil ich schon seit einigen Tagen Magenprobleme habe und während der Etappe nicht viel essen konnte. Ich war echt schlecht beisammen – und hoffe, dass ich mit dem Ruhetag halbwegs erholen kann, um dann bereit bin für die zweite Tour-Woche zu sein.

5. & 6. Etappe: Eco-Days in den Pyrenäen

von Silvan Dillier

Für uns im Team waren das zwei sogenannte ECO-Days in den Pyrenäen, bei denen wir, wie der Name schon sagt, ökonomisch fahren. Wobei man ECO-Days nicht mit einfachen Tagen verwechseln darf, da wir jedoch einige Höhenmeter zu überwinden hatten, darunter ja auch der Anstieg hoch zum Tourmalet, der auf über 2000 Meter ansteigt.

Nichtsdestotrotz geht es für uns als Team auf solchen Etappen darum, nicht allzu viele Kräfte zu vergeuden. Das bedeutet auch die Balance zu finden, wie lange wir jetzt im Hauptfeld mitfahren oder uns zurückfallen lassen und so energiesparend wie möglich noch ins Ziel zu kommen.


Wobei man immer auch berücksichtigen sollte, dass wenn man im Peloton fährt und ein Team die Kontrolle Inn hat und die Führungsarbeit übernimmt und kann man im Tal  für längere Zeit ziemlich gemütlich hinterherrollen – ohne jetzt viel Druck aufs Pedal geben zu müssen.

Wohingegen man im Gruppetto oftmals den so genannten belgischen Kreisel fährt, bei dem jeder auch Führungsarbeit übernehmen muss.

Mathieu ist auf der zweiten Pyrenäenetappe in die Spitzengruppe gegangen. Das war aber eher etwas für ihn selbst. In der Spitzengruppe zu fahren ist natürlich viel cooler, als im Gruppetto rumzufahren. Ich denke, das hat ihm sicher gut getan nach den ersten paar Tagen, die für ihn persönlich nicht ganz so gelaufen sind, wie er sich das wohl gehofft hat.

4. Etappe:  Luxus-Leadout-Mann Mathieu van der Poel

von Michael Gogl

„Leider wollte auf der Etappe keiner wirklich ausreißen. Aber natürlich wissen alle, dass die Sprinter-Teams garantiert alle einholen werden, die es versuchen. Die klassischen Fernsehattacken, um TV-Zeit zu bekommen, gibt es auch nicht mehr.

Ich bin eigentlich nur losgefahren, um ein wenig Feuer legen zu wollen für Fahrer, die wegspringen wollen. Es war also natürlich keine ernst gemeinte Attacke.

Im Finale waren wir gut positioniert, wie wir das eigentlich wollten. Bis zum Kreisverkehr 5,5 Kilometer vorm Ziel, wo ich die Jungs abliefern sollte. Aber danach war es wieder sehr chaotisch und mit dem Luxus einen Lead-out-Mann wie Mathieu van der Poel zu haben, kann man auf den letzten Metern auch ein paar Sachen noch ausmerzen.

 Jasper hat die letzten vier Tour de France-Massensprints – vergangenes und dieses Jahr – gewonnen. An Selbstvertrauen mangelt es ihm und uns jetzt natürlich auch nicht.“

3. Etappe:  Hektisches Highspeed-Finale mit Happy End

von Michael Gogl

„Mein Job im Finale war es, das Lead-out-Team um Jasper (Philipen) in Richtung Fünf-Kilometer-Marke zu rangieren. Wir haben schon 40 bis 50 Kilometer vor dem Ziel unsere Position eingenommen, was auch gut war, denn es war heute sehr sehr hektisch, wie so oft bei den ersten Sprint-Etappen der Tour. Wir haben trotzdem darauf geachtet, dass wir energieeffizient fahren. Wenn man in guter Position fährt, kann man ein wenig beruhigter sein und das verursacht auch generell weniger Stress bei allen Teamkollegen.

Silvan (Dillier) hat bis zu dem Moment, an dem ich übernommen habe, einen Top -Job gemacht.

Dann war meine Aufgabe halt, die Jungs durch die Kreisverkehre zu bringen und da vorne bei der Kilometer-fünf-Marke abzuliefern. Das ist mir auch ganz gut gelungen. Leider haben wir uns im letzten Moment ein bisschen verloren, aber die Jungs sind so unglaublich eingespielt.

Ich habe mir das Finale später noch mal am Fernseher angeschaut und muss sagen, das war schon allererste Sahne, was die da auf den letzten Kilometern abgeliefert haben.

Es ist superschön für uns, dass wir die Etappe gewonnen haben. Jeder war vor der Etappe extrem motiviert und committed.

Jasper hat denn meiner Meinung nach verdient gewonnen. Natürlich war das eng mit Wout. Aber die Bande kam auch abnormal nach innen, als sie um die Kurve rum-und nebeneinander gefahren sind.

Das war garantiert keine Absicht von Jasper. Weil ich kurz dann doch etwas beunruhigt war, dass wir den Etappensieg noch aberkannt bekommen kämen, war ich natürlich extrem happy, dass Jasper dann zum Sieger erklärt wurde.

P.S.: Vor dem Start der Etappe habe ich noch einen alten Bekannten getroffen: Alberto Contador. Mit ihm bin ich bei Tinkoff gefahren, wo meine Profi-Karriere begann, und bin mit ihm zu Trek gewechselt, wo er dann seine Karriere beendet hat. Immer wieder schön, wenn man alte Freunde trifft und über früher plaudert.“

2. Etappe: Berauschende Gefühle und Nervosität im Rennen

von Silvan Dillier

„Es gibt ja den berühmte Runner’s High. Dieses euphorisierende Gefühl, wenn man eine gewisse Zeit gelaufen ist. So etwas kann man beim Radfahren auch erleben. Wenn man aber im Baskenland bei der Tour de France dieses Gefühl erlebt, dann liegt das eindeutig an den Zuschauern am Streckenrand, die sich einen Joint durchziehen – dass mal so als Fun Fact am Rande.

Oftmals werde ich gefragt, was den Unterschied zwischen der Tour und den anderen beiden großen Landes-Rundfahrten ausmacht. Dann muss ich sagen – alles ist bei der Tour noch eine Spur nervöser und hektischer.

Wenn Du bei Giro oder Vuelta zu deinem Nebenmann fünf Zentimeter Platz hast, dann sind es bei der Tour halt nur noch drei.  Jeder fährt noch näher dran, jeder fährt noch einen Tick aggressiver. Jede Order vom Team wird noch klarer und unmissverständlicher ausgedrückt. Das sorgt für Stress und verursacht leider auch Stürze.

Bis jetzt sind die ersten zwei Tage gut von statten gegangen. Wir im Team haben auch einen Sportlichen Leiter, der uns in Ruhe lässt und uns vertraut. Das macht es viel angenehmer.

Das Rennen ist schon hektisch genug und wenn man dann noch nervöser gemacht wird durch den sportlichen Leiter im Ohr, ist das kontraproduktiv.“

1. Etappe: Nachführarbeit bei fantastischer Stimmung

von Silvan Dillier

„Auf der ersten Etappe war mein Job, in der ersten Rennhälfte die Nachführarbeit zu leisten. Zusammen mit Soudal-Quickstepn und Jumbo-Visma haben wir die fünf Ausreißer an der kurzen Leine gehalten. Ich trete dann an der Spitze des Pelotons im Wind so 360 bis 400 Watt – für zwei bis fünf Minuten. So lange dauert eine Ablösung.

Rund 70 Kilometer vor dem Ziel war dann mein Job beendet und die Tour nahm ihren typischen Lauf: Es begann das typische Track Race. Da heißt es „anschnallen“ und im Peloton mitfahren.

Was ich grundsätzlich betonen möchte, war die super Stimmung entlang der Strecke – wie die Zuschauer abgegangen sind. Die steigerte sich praktisch von Kilometer zu Kilometer. wurde. Den Siedepunkt erreichte das dann am letzten Anstieg – der Cote de Pike. Was da an Menschen stand – unglaublich. Das war ein Feeling wie in Alpe d‘Huez zu den besten Zeiten. Wahnsinn, wie die Basken hier uns sowie die Tour de France da abfeiern.

Das wird auf Etappe zwei sicher nicht anders werden.“

Teampräsentation und Recon der 1. Etappe der Tour de France 2023

von Michael Gogl

„Die Teampräsentation vor dem Guggenheim Museum in Bilbao war wie erwartet richtig schön. Die Fans standen in mehreren Reihen Spalier als wir auf den Rennrädern auf dem Weg zur Bühne gefahren sind. Man merkt daran, wie radsportenthusiastisch die Basken sind und dass deren Begeisterung natürlich für eine tolle Stimmung beim Grand Depart sorgt.

Kleine Randnotiz: Den netten Guide, der uns mit dem Rad zur Bühne geleitet hat, habe ich ein bisschen angetrieben mit den Worten „Venga Campeon“. Denn es hat gerade begonnen zu regnen, als wir in Richtung Bühne unterwegs waren. Aber der Stimmung hat das keinen Dämpfer verpasst.

Am Vormittag haben wir die letzten 50 Kilometer – also das Finale – der ersten Etappe besichtigt. Und die haben es wie erwartet schon in sich. Also ich bin mir sicher, dass das einer der spannendsten Auftaktetappen der vergangenen Jahre werden wird.

Mit dem Gelben Trikot als Preis im Ziel wird die Etappe wie ein Eintagesrennen ausgefahren. Die Favoriten aufs Gesamtklassement werden sich da nicht zurückhalten. Spannend wird es sicher auch deswegen, weil bergstarke Fahrer alles reinlegen müssen, um die starken Klassikerspezialisten abzuhängen. Ein reiner Sprinter hat null Chance aufs Gelbe Trikot.“

Fotos: photonews.be, Alpecin-Deceuninick, Mr. Pinko