Interview Silvan Dillier zu Paris-Roubaix: „Nie aufgeben lautet die Devise“
Der Schweizer Rad-Profi Silvan Dillier startet am Sonntag zu seiner insgesamt siebten Paris-Roubaix-Teilnahme. Mit Ausnahme seiner Premiere im Jahr 2014 erreichte der Alpecin-Deceuninck-Fahrer immer das Ziel im Velodrome und kann auf eine besondere Erfolgsgeschichte zurückblicken. Zum einen natürlich sein zweiter Platz 2018, zum anderen aber auch als Helfer für seine Teamkollegen Mathieu van der Poel und Jasper Philipsen, die hier einen Sieg und zwei weitere Podiumsplatzierungen erzielten.
Sie haben bei Paris-Roubaix ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. 2018, bei Ihrem zweiten Start in der Hölle des Nordens sind Sie Zweiter geworden. Im vergangenen Jahr waren sie als Edelhelfer an der Seite des späteren Siegers Mathieu van der Poel. Was bedeutet Ihnen mehr?
Das lässt sich schwer miteinander vergleichen. Beides war toll und einzigartig. Aber der zweite Platz 2018 war schon etwas ganz ganz Besonderes.
Vergangenes Jahr, beim Sieg von Mathieu van der Poel, kamen Sie in einer Gruppe ins Ziel, die noch um Platz 15 gesprintet ist. Man hat das Gefühl, dass Ihnen das Rennen ihnen liegt.
Ich würde sagen, es kommt meiner Mentalität entgegen, nie aufzugeben und immer dranzubleiben. Paris-Roubaix ist ein Rennen, bei dem im wahrsten Wortsinn alles passieren kann. Positiv wie negativ. Was Du als Fahrer nichts tun solltest, ist aufzugeben beziehungsweise Dich innerlich zu verabschieden und das Rennen nur noch abzuspulen. Egal an welcher Position man auch ist. Mich hat ein Defekt zurückgeworfen, aber ich bin dann einfach weitergefahren und dann von Gruppe zu Gruppe gesprungen und konnte so aufholen.
Können Sie uns mal mitnehmen auf ihre verrückte Fahrt?
Vor dem letzte Pave vor dem Wald von Arenberg hat Mathieu sein Rad gewechselt. Ich bin dann bei ihm geblieben und habe ihn wieder zurück ins Peloton gefahren. Als wir wieder zum Feld aufgeschlossen hatten, bemerkte ich, dass meine Schaltung defekt war. Also musste ich mein Rad wechseln, habe mich aber wieder ins Feld zurückgekämpft. Doch dann hatte ich noch ein Vorderradschaden und die Post ging ohne mich ab. Ich denke, ich war so zwischen Position 100 und 120 als ich durch den Wald von Arenberg gefahren bin. Wobei ich da ganz schöne Haken schlagen musste, um den gestürzten Fahrern und Autos auszuweichen.
Dass ich da noch irgendwie zurückgekommen bin in die erste große Gruppe, die um Platz 15 gefahren ist, ist eigentlich die verrückteste Story. Für mich selbst war das ein genialer Tag. Ich konnte das zwar nicht in ein Resultat ummünzen, aber grundsätzlich war ich superhappy mit meiner Leistung.
Haben Sie unterwegs erfahren, dass Mathieu in Führung liegt?
Als ich selbst aus dem Carrefour de l’Abre rausgefahren bin, konnte ich auf einem riesigen TV-Bildschirm neben der Strecke Mathieu alleine fahren sehen. Aber ich hatte ja keine Ahnung, an welcher Position er sich gerade befindet. Beim zweiten Hinsehen sah ich die Einblendung „tete de la course“ unten und es wurde mir klar, wer soll ihn jetzt noch einholen.
Einige Wetterberichte sagen Regen fürs Wochenende voraus. Verändert sich bei schlechtem Wetter, die Dramaturgie des Rennens und werden dann andere Fahrer vorne sein?
Ich denke beides. Es wird dann wohl so sein, dass es zu mehr Stürzen kommt, da natürlich kleine Fahrfehler noch verheerenderer Folgen haben können. Von diesem Gesichtspunkt aus kann ich mir vorstellen, dass die Fahrtechnik noch viel entscheidender sein wird wie sonst. Wenn ein Fahrer, der nicht so gute technische Skills besitzt, sich in einer trockenen Version von Paris-Roubaix noch irgendwie ins Ziel mogelt, wird das wird das bei einer nassen Edition unmöglich sein. Zudem glaube ich, dass der Kampf um die Positionen, wer ganz vorne aufs Kopfsteinpflaster fährt, bei nassen und schwierigen Bedingungen eher noch härter wird. Und das wird dann jedes Mal ein Zielsprint vor jedem einzelnen Kopfsteinpflaster-Sektor. Und da wird natürlich Explosivität pur verlangt.
Das Fahren über die Kopfsteinpflaster ist nie einfach – ohne Frage. Aber was noch viel schwerer und härter ist, ist die Anfahrt auf die Paves. Denn wenn du als Fahrer zu weit auf dem Kopfsteinpflaster hinten platziert bist, kannst du sowieso nicht agieren. Da bist du blockiert wegen eines Defekts oder eines Sturzes – und bist schnell abgehängt. Daher ist die Anfahrt auf die Kopfsteinpflaster überhaupt eines der wichtigsten Faktoren beziehungsweise Elemente in diesem ganzen Rennen.
Aus diesem Grund ist eine Fahrt in der Fluchtgruppe vorzuziehen?
Das kann man sich im Endeffekt so vorstellen als würde man den ganzen Tag im Sofa sitzen oder den ganzen Tag stehen, während man fernsieht. Irgendwann merkst du, dass es auf dem Sofa angenehmer ist. So ist es dann auch in der Spitzengruppe. Die Kopfsteinpflaster sind zwar dann immer noch dieselben aber der ganze Stress, den es vor diesen Passagen gibt, den hat man in einer Spitzengruppe eben nicht.
Fährt man in einer Ausreißergruppe die Sektoren in einer ähnlichen Intensität wie im Peloton?
Es ist definitiv homogener in einer Ausreißergruppe. Im Peloton bist du angespannter, wenn du nicht ganz vorne fährst. Weil du eben nur schwer nach vorne sehen kannst. Du weißt nie ganz genau, wann das nächste Schlagloch kommt. Wenn du im Peloton übers Pave fährst, dann profitierst du natürlich auch vom Windschatten. Von dem von der ganzen Sogwirkung den natürlich ein großes Feld hat. Aber nichtsdestotrotz ist natürlich das Fahren in der Spitzengruppe definitiv angenehmer.
Sind Sie 2018, als Sie am Ende Zweiter hinter Peter Sagan wurden, schon mit der Intention an den Start gegangen, in die Ausreißergruppe zu gehen?
Ich habe damals erst am Donnerstag direkt vor dem Rennen erfahren, dass ich im Aufgebot stehe. Wenige Wochen zuvor hatte ich mir bei Strade Biance meinen kleinen Finger gebrochen und meine gesamte Klassiker-Saison war sozusagen gelaufen. Vier Wochen nach dem Bruch bin ich in Frankreich einen Coupe France gefahren und hab das Rennen gleich gewonnen. Ich war frisch und konnte trotz des Fingerbruch gut zu Hause trainieren. Daher wurde ich nachnominiert.
Der Plan des Teams war klar. Ich sollte die ersten 40 Kilometer des Rennens einfach mitfahren in Peloton. Wenn dann noch keine Gruppe steht, soll ich versuchen ein paar Mal mitzuspringen. Das war sozusagen die taktische Vorgabe. Nach 40 Kilometer habe ich das Geschehen an der Spitze vorne mitverfolgt und habe gesehen, dass schon zwei, drei Versuche fast geglückt waren, um weg zu kommen. Dann bin ich auch ein, zwei Mal mit gesprungen. Ich würde sagen, an dem Tag, in die Gruppe zu kommen, war der aller härteste Moment im Rennen überhaupt. Ich war wirklich kurz davor, vorm abzuplatzen.
Als ich es geschafft hatte, war mir aber auch klar, heute kann ich richtig weit kommen. Die Sache ist einfach erklärt. Der Effort – also die Anstrengung – in die Gruppe zu kommen, ist riesengroß, Aber dann hast du ein bisschen Zeit, um dich zu erholen. In der Folge hast du den ganzen Stress mit dem Positionieren nicht.
Je weiter du auch im Rennen kommst, desto kleiner wird die Zahl der Helfer, die die großen Fahrer im Peloton unterstützen. Irgendwann sind dann die Leader auch auf sich alleine gestellt. Und die müssen dann auch einen großen-Effort machen, um dich wieder einzuholen.
Wenn die Big Guns nach rund 200 Kilometer auf einen auffahren, haben sie auch einen halbleeren Tank. Sie sind dann auch nicht mehr so frisch. Das ist eigentlich der große Vorteil, den ich habe, oder den ich bei fast allen meinen Rennen, die ich gewonnen habe zum Erfolg ummünzen konnte.
Sie haben damals nach ihrem zweiten Platz bei Paris-Roubaix 2018 im Interview gegenüber dem Cyclingmagazine gesagt, Sie können zum Tier werden?
Da kann ich mich noch genau daran erinnern. Aber es ist auch so. Ich kann dann schon über mich hinauswachsen, wenn ich sehe, heute bin ich am Drücker. Ich bin heute nicht der, der wie eine Fahne im Wind hinten im Peloton weht, sondern ich bin derjenige, der vorne aufs Gaspedal drücken kann. Dann kann ich Kräfte mobilisieren und bin voll von Adrenalin, dann geht was.
Als Sie damals mit Sagan allein in Richtung Ziel gefahren sind, haben Sie da über den möglichen Sieg nachgedacht?
Am Anfang ging es mir gar nicht unbedingt darum das Rennen zu gewinnen. Tom Boonen hat mal in einem Interview gesagt, wenn er in einer Spitzengruppe mit sieben Fahren war, hat er immer gedacht, im schlimmsten Fall werde ich Siebter. Dann sind zwei abgefallen und dann hat er sich gesagt, jetzt werde ich auf jeden Fall Fünfter.
Als ich das gelesen habe, habe ich mir gedacht, das stimmt tatsächlich. Du kannst und solltest auch mal mit dem zufrieden sein, was du bislang im Rennen erreicht hast. Wenn du diese Sichtweise für dich in Anspruch nimmst, gibt dir das ein ganz anderes Gefühl, als wenn du denkst, Mist ich muss die anderen zwei noch schlagen, sonst gewinne ich nicht.
Irgendwie hatte ich das auch im Hinterkopf. Ich dachte mir, wir sind jetzt zu zweit, da hinten kommen noch fünf andere Superstars. Wir müssen einfach schauen, dass diese nicht zurückkommen und wir vorne bleiben. Dann habe ich mich mehr damit beschäftigt, als ob ich Sagan schlagen kann.
Das ist auch im Übrigen auch einer der Gründe, warum ich mit Sagan zusammengearbeitet habe. Wenn ich jetzt einfach gesagt hätte, ich fahre nur auf Sieg und führe deswegen keinen einzigen Meter, dann wäre ich vielleicht am Ende 15. geworden, wenn wir noch eingeholt worden wären. Und keiner hätte sich dafür interessiert.
Aber wenn ich mit Sagan durchfahre, kommen wir zu zweit ins Velodrom. Klar, er ist mehrfacher Weltmeister, hat eine riesige Saison schon hinter sich, meine Chancen waren realistisch betrachtet ziemlich klein. Jetzt kann man sich noch vorbeten und sagen, ich habe ja Bahn-Erfahrung. Aber ich kann sagen, nach 250 Kilometern von den 50 Kilometer Kopfsteinpflaster sind, ist ein Sprint auf dieser Bahn nicht mehr der gleiche wie in einem Scratch-Rennen.
Ich habe auch in einem Interview nach Roubaix gesagt, Sagan war für mich wie der Engel und der Teufel in einer Person. Wenn er nicht zu unserer Spitzengruppe aufgefahren wäre, wäre ich wohl nie so weit vorne gelandet. Aber mit ihm zusammen im Velodrom anzukommen, bedeutet schon fast, dass du Zweiter wirst im Sprint. Klar, war der Sieg greifbar nahe. Aber doch zu weit weg, wenn du gegen Sagan sprinten musst.
Kam mit diesem zweiten Platz dann auch die Liebe zum Rennen oder gibt es diese bedingungslose Zuneigung zu Paris-Roubaix nicht?
Ich würde es eher als Hassliebe bezeichnen. Wenn du in der Schweiz die Menschen fragst, was für Radrennen sie kennen, dann kommt als Antwort Tour de Suisse und Tour de France, und wenn Sie noch ein Eintagesrennen kennen, dann Paris-Roubaix. Das sagt viel über das Prestige dieses Wettbewerbs aus. Es ist eines der größten Eintagesrennen, wenn nicht sogar das größte, das wir im Kalender haben und eines der schwersten.
Allerdings können viele unberechenbare Faktoren einen Einfluss haben. Nichtsdestotrotz glaube ich, wenn du mit der richtigen Einstellung – sprich du gibst einfach nie auf – und einen professionellen Support vom Team ins Renne gehst, kannst du das Rennen schon auch zu deinem Vorteil nutzen. Du brauchst aber ein gutes Line-up; also Fahrer, die dich auch in einer ungünstigen Situation unterstützen können, dann ein gutes Team im Auto sowie auch Performance-Personal, dass dir das bestmögliche Set-up ermöglicht beziehungsweise sich darum kümmern.
An einem Punkt hat jeder mal Pech in diesem Rennen. Aber die Frage ist, wie viel du aus diesem Pech machst beziehungsweise, wie sehr du dich davon leiten lässt oder wie gut du mit diesem ersten kleinen Rückschlag umgehst.
Fotos: Photonews.be, Team Alpecin-Fenix