Rad-Profi Geraint Thomas über den Tour-Berg Planche des Belles Filles
Spannende Lektüre für Tour de France-Fans und Freunde der „schiefen Ebene“. Der Tour-Sieger von 2018, Geraint Thomas hat in seinem Buch „Radsportberge und wie ich sie sah“ dem Vogesen-Anstieg Planches des Belles Filles ein Kapitel gewidmet. Bei der Tour de France 2022 müssen die Profis hier am Ende der 7. Etappe hoch. Die Frauen erklimmen den Anstieg am Finaltag der Tour de France Femmes am 31. Juli 2022.
Alpecin Cycling veröffentlicht Teile des lesenswerten Kapitels über den Anstieg – mit freundlicher Genehmigung des Covadonga Verlages, in dem das Buch auf Deutsch erschienen ist.
Auszug aus dem Buch „Radsportberge und wie ich sie sah“ von Geraint Thomas
Du hast viel gehört über die Alpen und die Pyrenäen. Nicht zuletzt von mir, in diesem Buch: Sie bieten eine Menge spektakuläre Orte, um mit dem Rad hinaufzufahren. Aber wir dürfen bei alledem auch die Vogesen nicht vergessen, auch wenn kaum ein Nicht-Franzose in der Lage wäre, sie auf der Karte zu finden.
Sie sind fremdartig, die Vogesen. Dunkel und grün wie die Pyrenäen. Waldig und feucht, während die Alpen im Sommer sauber und hell sind. Sie sind nicht so hoch, gemessen an den Maßstäben ihrer beiden größeren Verwandten, und es gibt keine atemberaubenden schneebedeckten Gipfel. Es gibt keine einstündigen Anstiege. Das macht nichts.
Die Vogesen sind auf ihre eigene, etwas suspekte Weise besonders: Sie verstecken sich und sie sind ein bisschen eigen und sie sind Fremden gegenüber etwas misstrauisch. Sie wirken fast wie ein Außenposten des Baskenlandes, nur halt ein paar hundert Kilometer Richtung Nordosten an die deutsche Grenze verpflanzt. Und ich mag sie, mit ihren verschnörkelten, engen Straßen, den kleinen pittoresken Städtchen, der Leidenschaft ihrer Radsportfans. Bei der Tour de France durchquerst du die Vogesen stets auf dem Weg nach anderswo, aber sie sind mehr als nur eine Zwischenstation. Sie stellen auch für sich genommen eine Attraktion und eine Herausforderung dar.
Die Planche des Belles Filles ergibt keinen Sinn, weder als Anstieg noch als Ort.
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So oder so ist dieser Anstieg fast so schwer auszusprechen, wie er hinaufzufahren ist. Englische Muttersprachler fangen meist ganz gut an, werden dann aber übermütig: Nachdem sie die Planche noch ganz gut hinbekommen haben, stolpern sie über Belles und müssen vor den Filles endgültig kapitulieren. So ähnlich ist es, wenn du diesen Berg mit dem Rad bezwingen willst. Weiter unten ist es noch okay und lullt dich ein. Im Mittelteil wird es unangenehm. Das Finale ist eine unmenschliche Bosheit, eine Rampe, auf der du dir vorkommst, als würdest du eine Skisprungschanze hinauffahren, und danach noch eine Schotterpiste, für die du eigentlich eine Cyclocross-Maschine bräuchtest. Das erhöht nur den Reiz des Anstiegs. Es gibt nirgendwo etwas Vergleichbares.
Planches des Belles Filles: Premiere als Tour-Berg 2017
Meine eigenen Erfahrungen an der Planche sind gemischt. Als uns diese Bergankunft bei der Tour 2017 aufgetischt wurde, ging ich im Gelben Trikot in den Anstieg und beendete ihn als Chris Froomes wichtigster Domestik. Zwei Monate zuvor war ich beim Giro schwer gestürzt und ich war nicht in bester Kletterform, was sich auf dieser Straße nicht kaschieren lässt. Nicht ganz sechs Kilometer waren es seinerzeit (die Veranstalter hatten ihren teuflischen Plan mit der geschotterten Verlängerung damals noch nicht ausgeheckt), eine durchschnittliche Steigung von knapp unter 9 %. Und du stellst fest, dass du an deinem absoluten Limit fährst und trotzdem gerade so über die Runden kommst.
Du wuchtest dich eine fies steile Rampe hoch, schnaufst einmal durch und fragst dich, wie lange du das noch durchhältst, denn du hast keinerlei Rhythmus, weil die Steigung ständig wechselt. Dann siehst du 300 Meter vor dir den Zielbogen – und plötzlich dreht die Straße komplett durch und wirft sich mit 24 % gen Himmel. Das ist keine Straße mehr, das ist eine Hauswand. Und wenn du an dieser Stelle nicht ganz auf der Höhe bist, ist der Ofen sofort aus. Im Flachen kannst du in der Zeit, die es braucht, um diesen Satz zu schreiben, 250 Meter fahren. An der Planche des Belles Filles kannst du auf den paar Metern locker eine halbe Minute verlieren. Achtung: Steilheit tötet.
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Worauf es außerdem ankommt, ist, zu welchem Zeitpunkt der Tour de France die Planche des Belles Filles ansteht. 2019 war das auf der sechsten Etappe, die erste richtige Bergprüfung der Rundfahrt, an einem Tag, der gespickt war mit ähnlichen, aber kürzeren Anstiegen. Und auch wenn eine solche Etappe allein aufgrund der Länge niemals so entscheidend sein würde wie eine ausgewachsene Hochgebirgsetappe, gab es am Ende ähnliche Zeitabstände zwischen den Favoriten wie in Alpe d’Huez im Jahr zuvor. Die Planche ist nicht zu unterschätzen, und das neue Gravel-Stück hoch zum Gipfel, das wir in diesem Jahr zu bewältigen hatten, steigerte nur ihr Prestige. Der Schotter ist zwar vergleichsweise kompakt, aber an manchen Stellen tief und du kannst komplett den Schwung verlieren.
Planche des Belles Filles: Verdammt lange sechs Kilometer
Und es ist auf surreale Weise schön, dieses letzte Stück. Es ist wie Radfahren in Zeitlupe. Jeder von uns ist am absoluten Limit, aber wir fahren alle nur 10 km/h. So etwas sieht man sonst nicht im Spitzenradsport, nicht bei der Tour de France, dem Rennen, für das alle das ganze Jahr trainiert haben, um in Topform zu sein. Es ist so steil, dass man aufhören möchte zu treten. Es ist so steil, dass man genau das auch tut, sobald man den Zielstrich überquert hat. Binnen einer Pedalumdrehung kommst du zum Stillstand.
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Ich weiß, das klingt alles extrem verlockend, wenn du also Lust auf die Planche bekommen hast, hier ein paar Tipps. Montiere hinten einen großzügig dimensionierten Rettungsring. Dies ist nicht die Gelegenheit, um den Helden zu spielen. Gehe die steilen Passagen zu Beginn nicht zu schnell an. Mach dir die Spitzkehren zunutze, nimm die flachere Außenkurve, sofern dir keine Autos entgegenkommen. Brich den Anstieg in Teilstücke herunter und nutze die leichteren Abschnitte, um dich zu erholen – höre dabei nicht auf zu treten, sammle aber deine Kräfte für die steilen Stücke, die noch kommen.
Nimm vor der langen Haarnadelkurve direkt vor der klassischen Schlussrampe noch einen tiefen Schluck aus der Pulle, um dich für die letzte Anstrengung zu wappnen. Es hat wenig Sinn, jetzt noch etwas zurückhalten zu wollen. 20 % Steigung sind nie angenehm, vor allem nicht nach 20 Minuten strammer Kletterei. Überlege dir, wie du klettern willst. Wenn du zu oft aus dem Sattel gehst, werden deine Arme ermüden. Verlagerst du dein Gewicht an den supersteilen Stellen zu weit nach hinten, drohst du einen unfreiwilligen Wheelie hinzulegen und auf dem Hintern zu landen. Du willst auch das anschließende Gravel-Stück hoch zum Gipfel meistern? Wenn du hier aus dem Sattel gehst und dich vorbeugst, lastet nicht genug Gewicht auf dem Hinterrad, es dreht auf dem Schotter durch und du kommst im Nu zum Stillstand. Ich sage ja, alles nicht so einfach.
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Jedes Mal, wenn die Tour an der Planche Station macht, fahren wir mit frischen Eindrücken wieder davon. 2012 war es ein dürrer Sky-Fahrer namens Chris Froome, der sich hier absetzte, die Ellenbogen ausgestellt, die Arme so dünn, dass die drei Streifen auf den Ärmeln seines Adidas-Trikots breiter waren als die Gliedmaßen selbst. 2014 war es Vincenzo Nibali, der die Kontrolle über das Rennen übernahm und sie nicht wieder hergab; 2017 Aru, ganz Leidenschaft, offener Mund und Freude. 2019 war es Giulio Ciccone, der es in eine Fluchtgruppe schaffte, die durchkam, sich das Gelbe Trikot überstreifte und mit unnachahmlich italienischer Freude feierte. Das ist es, was die Planche ausmacht. Sie sorgt für Dramen, für Erinnerungen. Und sie hat auch eine Lehre für Rennveranstalter parat: Ein Anstieg muss nicht superlang sein, um unvergesslich zu sein. Es kann viel passieren auf sechs Kilometern in den Vogesen.
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Steckbrief des Buches „Radsportberge und wie ich sie sah“
Titel: Radsportberge und wie ich sie sah
Autor: Geraint Thomas
Verlag: Covadonga
Erscheinungsjahr: 2021
ISBN 978-3-95726-060-4
Umfang: 256 Seiten
Preis: 14,80 Euro
Geraint Thomas, Tour-Sieger von 2018 und Tour-Zweiter 2019, beschreibt in seinem „Kletterführer“ anschaulich und detailliert 25 Radsportberge, zu denen er im Laufe seiner Karriere ein ganz besondere Beziehung aufgebaut. Darunter sind die großen und bekannten Anstiege der Grand Tours und Klassiker wie Galibier, Tourmalet, Koppenberg und Co genauso wie die Anstiege aus seinem Trainingsrevieren wie Cat and Fiddle, Bumpy und Malhalo.
Zu bestellen direkt über den Shop des Covadonga-Verlages oder über den Buchhändler vor Ort.
Fotos: Kathrin Schafbauer, Sebastian Friedrich, mrpinko/Stefan Rachow