Mailand-Sanremo: Profi Geraint Thomas über Cipressa und Poggio

15.03.2023

Wer den Frühjahrsklassiker Mailand-Sanremo live verfolgt – ob am Bildschirm oder vor Ort, sollte sich diesen Text von Rad-Profi Geraint Thomas nicht entgehen lassen. „G.“ beschreibt geradezu literarisch, was die Faszination dieses Monuments ausmacht und wie ein Fahrer das Finale erlebt. Durch seine packende Erzählweise schlüpft der Leser in die Rolle eines imaginären Sozius und erlebt jeden Meter an Cipressa und Poggio mit. Nervenkitzel und Gänsehaut garantiert!

Alpecin Cycling veröffentlicht Teile des lesenswerten Kapitels über den Anstieg – mit freundlicher Genehmigung des Covadonga Verlages, in dem das Buch auf Deutsch erschienen ist.

Auszug aus dem Buch „Radsportberge und wie ich sie sah“ von Geraint Thomas

Manche Anstiege fährst du und du weißt gleich Bescheid, wo du bist. Sie ergeben einen Sinn. Sie dominieren die Landschaft, sehen unverwechselbar aus, fahren sich unverwechselbar. Du kannst sie nicht übersehen und du kannst sie niemals vergessen.

Cipressa und Poggio: die Finalanstiege bei Mailand-Sanremo

Die Cipressa und der Poggio? Die musst du erst suchen. Du musst runter von der Hauptstraße und die richtige kleine Abzweigung nehmen. Hast du sie gefunden, zwischen den Olivenbäumen und den mediterranen Pinien und Zypressen, fängst du an zu treten und denkst: Oh, das ist okay. Fährt sich angenehm. Das ist leicht. Und du fährst oben über die Kuppe, ohne einmal aus dem Sattel gegangen zu sein, und rollst auf der anderen Seite wieder hinab und kehrst auf einen Kaffee in Sanremo ein. Dann blickst irritiert dorthin zurück, woher du gekommen bist, und fragst dich: War’s das schon? Die Cipressa. Fünfeinhalb Kilometer mit einer durchschnittlichen Steigung von 4,1 %. Ein kurzes Steilstück mit 9 %. Zehn Minuten und es ist geschafft. Der Poggio: noch kürzer und flacher, vier Kilometer mit im Schnitt 3,7 %. Als Anstiege spielen sie keine besondere Rolle. Bis sie es tun. Wenn sie alles bedeuten.

Es geht nicht darum, was die Cipressa und der Poggio sind. Es geht darum, wo die beiden Hügel auf dich warten: Den ersten der beiden erreichst du nach 270 Kilometern im Sattel, den Gipfel des zweiten nur 5,4 Kilometer vor der Ziellinie in Sanremo – deswegen sind sie legendär. Deswegen werden sie von den Fahrern geliebt und deswegen wird ihnen von den Fans gehuldigt. Alles, was davor kommt, die gut sechs Rennstunden, ist letztlich nur ein Aperitif. Ein Aperitif in einem Longdrinkglas und mit Eis vielleicht, aber einer, der dich definitiv langsamer macht, dich deiner Kräfte beraubt und deinen Geist vernebelt.

Klar kannst du die Cipressa und den Poggio im Training oder auf einer Erkundungsfahrt gemütlich hinaufjuckeln. Aber wenn du ab Mailand unterwegs bist und am Limit bist und der Sieg in einem der ganz großen Eintagesklassiker zum Greifen nah ist – dann sind sie schwer. Es ist ähnlich wie bei der legendären Back Nine von St. Andrews. Schick einen der hundert besten Golfer der Welt an einem gewöhnlichen Tag auf den Platz und das neunte Loch wird für ihn ein Spaziergang sein. Aber am Schlusstag der British Open, vor der riesigen Zuschauermenge und mit all den Fernsehkameras an jeder Ecke, kann auch der stärkste Mann einbrechen.

Um es anders zu sagen, mit einer vielleicht arg britischen Sicht auf ein durch und durch italienisches Ereignis: Stell dir vor, du gehst an einem ganz normalen Arbeitstag zur Dönerbude um die Ecke und holst dir ein Kebap mit Pommes. Es wird dich wohl kaum vom Hocker reißen. Eigentlich hättest du lieber was anderes. Aber gehe zur gleichen Dönerbude und bestelle das gleiche Menü um zwei Uhr morgens nach einer spektakulären Sauftour und es ist das beste Essen der Welt. Jeder Bissen ist ein Genuss. Der einzige Wermutstropfen ist, dass es irgendwann vorbei ist. Und es ist so gut, dass du nicht willst, dass es jemals aufhört. Das sind die Cipressa und der Poggio. Gewandet in Historie, das große Finale in einem Drama in fünf Akten, das entscheidende Einzel in einem Davis-Cup-Finale.

Was du bisweilen nicht siehst, ist, was deinen Beinen auf dem Weg dorthin bereits abverlangt wird: der Kampf über den Passo del Turchino oder wie technisch anspruchsvoll die Abfahrt zur Küste bei schlechtem Wetter sein kann. 2013 schneite es am Gipfel so heftig, dass für uns kein Durchkommen war. Den Organisatoren muss das schon am Start klargewesen sein – wenn es schon in Mailand derart heftig regnet, schneit es am Turchino –, trotzdem schickten sie uns los, stoppten uns vor dem Turchino und karrten uns dann in Bussen zur Küste, wo das Rennen neu gestartet wurde. Wir waren alle komplett erledigt, suchten fieberhaft nach trockenen Klamotten, nach einer Tasse Tee, irgendetwas, um wieder etwas Leben in unsere Körper zu bringen.

Ian Stannard fror so sehr, dass ihm fast die Tränen kamen. Danach fühlten sich die Cipressa und der Poggio so hart an wie die Kombination aus Télégraphe und Galibier.

Die drei Capi machen den Auftakt im Finale

Bei einer normalen Ausgabe von Mailand–Sanremo geht es die ganze Zeit mit Vollgas die ligurische Küste entlang, auch wenn es im Fernsehen nicht immer so aussieht, und dann in einer wilden Hatz über die drei Hügel, die sich daran anschließen – Capo Mele, Capo Cervon, Capo Berta. Es wird gedrängelt, es wird um jede Position gekämpft. Du spürst, wie sich die Anspannung breitmacht, die Wut, die Müdigkeit. Jetzt heißt es, konzentriert zu bleiben. Fans hängen von den Balkonen, in deinem peripheren Gesichtsfeld brennen Fackeln, der Rauch reizt deine Augen und verstopft dir die Lunge. Und dann erreichst du die Cipressa: die gelb gestrichenen Häuser, die rotbraunen Ziegeldächer, der alte Kirchturm.

Es geht auf einer leichten Abfahrt in eine Kurve, eine lange Kehre nach rechts und dann eine Rutschpartie über einen Zebrastreifen. Ich bin dort mal gestürzt. Wenn es feucht ist, ist die weiße Farbe wie Glatteis. Vor mir ging jemand hart und spät in die Eisen. Ich zog an den Bremshebeln und schlug sofort lang hin. Das Rennen war gelaufen, keine Chance mehr, wieder zurückzukommen. Nicht dort.

Cipressa – „eher ein Rollerberg“

Am Fuß der Cipressa solltest du unter den ersten 30, höchstens 40 Fahrern sein. Der Anstieg beginnt und es ist eher ein Rollerberg, aber das Tempo ist heftig. Gekämpft wird vor allem um eine gute Position für die Abfahrt und weniger darum, als Erster oben zu sein. In der Regel gibt es eine oder zwei Attacken, aber es kommt nur selten vor, dass sich ein Fahrer an der Cipressa absetzt und als Solist bis nach Sanremo durchkommt, denn es sind noch 22 Kilometer bis zum Ziel.

In hohem Tempo geht es hinab, zurück auf die Straße, die du eben verlassen hast und auf der es dann für gut zehn Kilometer mit Vollgas weitergeht. Auf der Erkundungsfahrt scheint sich dieses Stück ewig hinzuziehen. Im Rennen geht es im Schnelldurchlauf. Es ist vorbei, ehe du dich versiehst, und du könntest leicht den Abzweig zum Poggio verpassen, wenn du nicht einen Haufen bunter Trikots vor dir und ein paar Motorradkameras hinter dir hättest, denn er ist doch arg unscheinbar.

Poggio – unterschiedliche Sieg-Szenarien

Du biegst einfach von der Hauptstraße ab, die Straße wird schmaler und los geht’s. Schon bist du mittendrin und es ist ein einziges Hauen und Stechen. Das ist es, was dich aus der Fassung bringt. Du bist die ganze Zeit nur am Treten. Du trittst und trittst. Wenn die Attacken am Poggio beginnen und es so richtig losgeht und bis nach oben nicht mehr aufhört, musst du jede Lücke schließen, die sich vor dir auftut.

Es ist, als würdest du auf Zwift trainieren und die Anweisung erhalten, ein Loch von zwei Metern zuzufahren, weil du ansonsten im Wind stehen und den höheren Widerstand sofort zu spüren bekommen würdest. Du sprintest, um das Hinterrad vor dir zu halten; du sprintest aus den Kurven heraus, wenn du von vorne fährst. Du schaust auf das Display deines Powermeters und die Watt sprudeln nur so aus dir heraus.

In der Spitzengruppe wissen alle, wo die wirklich gefährlichen Attacken kommen werden. Die ersten zwei Kilometer geht es stramm hoch, dann wird es flacher, dann zieht die Steigung wieder an. Dort lancierst du deinen Angriff: Tritt im zweiten steilen Abschnitt an und versuche, deine Verfolger in den engen Kurven, die sich daran anschließen, abzuschütteln.

Vincenzo Nibali hat es 2018 vorgemacht. Er hatte es schon sechs Jahre vorher mit Fabian Cancellara und Simon Gerrans versucht, und es hatte auch damals funktioniert, allerdings setzte sich Simon im Zielsprint durch. Auch Paulo Bettini hat es so gemacht. Laurent Jalabert ebenfalls. Es ist ein reiner, unverfälschter Moment, diese paar Sekunden, wenn eine Attacke bevorsteht. Wenn du dein Koffein-Gel genommen hast und mental darauf vorbereitet bist, dass es gleich losgeht, wartest du nur auf das Zucken der Wadenmuskeln deines Rivalen und seinen plötzlichen Antritt. Wenn du in Form bist, scheinen sich die großen Attacken alle in Zeitlupe abzuspielen. Du siehst sie kommen und du hast alle Zeit der Welt, um zu reagieren.

Es ist, als wärst du Spider-Man und deine Spinnensinne wären hellwach. Du bist dir deiner Atmung bewusst; du bist dir bewusst, wo sich die Fahrer um dich herum befinden. Wenn du hingegen leidest, geht alles viel zu schnell. Du kannst nicht reagieren. Aber wenn du imstande bist zu reagieren, sobald ein Peter Sagan oder ein Julian Alaphilippe antreten, ist das eins der besten Gefühle der Welt, weil du weißt, wie gut diese Fahrer in dem sind, was sie da gerade machen. Wenn du derjenige bist, der angreift, sollte es instinktiv geschehen. Du magst einen Plan im Kopf haben – ich greife irgendwo auf den nächsten 500 Metern an –, aber es ist etwas Unbewusstes, das dir sagt, wann genau es so weit ist. Jawoll, fühlt sich gut an – lassen wir es krachen.

Ich habe selbst etwas anderes ausprobiert als das Nibali-Modell und es ist leider nicht ganz aufgegangen. 2015 setzte ich mich zwischen der Cipressa und dem Poggio zusammen mit Daniel Oss von BMC ab, dann machte ich mir am Poggio so lange es ging seine Dienste zunutze. Ich ging davon aus, an der üblichen Stelle anzugreifen, aber ich hätte früher attackieren sollen. Als wir in den Anstieg gingen, hatten wir einen Vorsprung von 17 Sekunden, aber das reichte nicht. Um eine Chance zu haben, hätte ich stattdessen vom Beginn an Vollgas geben müssen. Als ich mich schließlich absetzte, gelang es mir noch, ein Polster von immerhin gut zwölf Sekunden herauszufahren, aber dann blickte ich zurück und sah Luca Paolini mit Alexander Kristoff im Schlepptau heranrauschen. Zu spät. Ich hielt bis 50 Meter vor dem Gipfel einen kleinen Vorsprung, dann wurde ich von den Favoriten geschluckt und war nur noch ein Stück Treibgut unter vielen hinten im Feld. Wieder war das Rennen für mich gelaufen. Anderer Plan, gleiches Resultat.

Das alles klingt ein bisschen so, als wäre Mailand–Sanremo vorhersehbar. Das ist es ganz und gar nicht. Es ist das Rennen, bei dem alles passieren kann, und der Grund dafür ist die schnelle Schlagkombination aus Cipressa und Poggio. Ein Klassementfahrer wie Nibali kann La Primavera gewinnen, ebenso ein Klassikerspezialist wie Michał Kwiatkowski oder Julian Alaphilippe, aber auch ein reiner Sprinter wie Mark Cavendish oder Caleb Ewan.

Nervenkitzel auf den Abfahrten von Cipressa und Poggio

Vieles hängt davon ab, was auf den Abfahrten dieser beiden Hügel passiert. Ich könnte ein ganzes Kapitel nur über die Abfahrten schreiben, darüber, wo du sein musst und was du zu tun hast.

Sie sind wunderbar zu fahren, aber man fliegt sie auf Messers Schneide herunter. Es gibt keine Erholung, keine Chance, es einfach rollen zu lassen. Es gibt Kurven, die eng genug sind, dass du ein Loch reißen oder schließen kannst. Es gibt Kurven, in denen du entweder um Haaresbreite einem Sturz entgehst und wie im Rausch davonkommst oder dich ein Ideechen zu weit hineinlehnst und krachend zu Boden gehst.

Es wird immer viel darüber geredet, wer diese Abfahrten am besten meistert. Kommt darauf an. Es macht einen Unterschied, ob es nass oder trocken ist. Es spielt eine Rolle, ob du allein an der Spitze oder in einer Gruppe bist. Es gibt Kurven, die sich plötzlich verengen und dich kalt erwischen, wenn du bei der Erkundungstour nicht aufgepasst hast, und es gibt ein paar, in denen du nicht zu bremsen brauchst, wenn du den Mumm dafür hast.

Nibali hat viel Anerkennung dafür bekommen, wie er den Poggio hinabgerast ist, aber die meisten Topfahrer wären genauso schnell gewesen, wären sie als Solist allein an der Spitze um den Sieg gefahren. Auf dich allein gestellt kannst du die Ideallinie nehmen, bremsen, wenn du bremsen willst, und nicht, wenn der Fahrer vor dir es tut. Du kannst aus den Kurven heraus beschleunigen, weil dir niemand im Weg ist. In der Verfolgergruppe zieht plötzlich ein Fahrer einer Konkurrenzmannschaft nach getaner Arbeit direkt vor dir rüber und du musst ihm ausweichen. Ein anderer zupft nervös an den Bremshebeln und zwingt auch dich zu bremsen, um nicht hinten auf ihn draufzufahren. Das kann dich jedes Mal zwei oder drei Sekunden kosten, während der Fahrer allein vorne an der Spitze weiter ungestört seine Kreise zieht. Als superstarker Abfahrer kannst du vielleicht so durchkommen. Denk nur an Mark Cavendish bei Mailand–Sanremo 2009, als er sich am Hinterrad von George Hincapie die Cipressa und den Poggio hinaufarbeitete, noch jede Menge Helfer von Columbia-High Road an seiner Seite.

Cav ist ein super Abfahrer, wenn er weiß, was auf dem Spiel steht. Es ging um alles oder nichts, Sturz oder Sieg, und das war okay für ihn. Er wusste: Wenn er heil durchkommt, wäre er im Finale auf jeden Fall der Schnellste, auch wenn der arme Heinrich Haussler sich für einen kurzen Moment einbildete, ihm Paroli bieten zu können.

Cav hat an der Cipressa und am Poggio alles richtig gemacht. Wenn du Mailand–Sanremo gewinnen willst, kannst du dir keine Fehler erlauben.

Radsportbuch von Geraint Thomas

Steckbrief des Buches „Radsportberge und wie ich sie sah“

Titel: Radsportberge und wie ich sie sah
Autor: Geraint Thomas
Verlag: Covadonga
Erscheinungsjahr: 2021
ISBN 978-3-95726-060-4
Umfang: 256 Seiten
Preis: 14,80 Euro

Geraint Thomas, Tour-Sieger von 2018 und Tour-Zweiter 2019, beschreibt in seinem „Kletterführer“ anschaulich und detailliert 25 Radsportberge, zu denen er im Laufe seiner Karriere ein ganz besondere Beziehung aufgebaut. Darunter sind die großen und bekannten Anstiege der Grand Tours und Klassiker wie Galibier, Tourmalet, Koppenberg und Co genauso wie die Anstiege aus seinem Trainingsrevieren wie Cat and Fiddle, Bumpy und Malhalo.

Zu bestellen direkt über den Shop des Covadonga-Verlages oder über den Buchhändler vor Ort.

Fotos: Photonews.be, mrpinko/Stefan Rachow