„Mir ist die Freude verlorengegangen.“ Interview mit Rad-Profi Philipp Walsleben zum Karriereende

01.10.2021

Alpecin-Fenix-Profi Philipp Walsleben macht Schluss. Der 33-jährige Berliner beendet seine Karriere und bestreitet mit dem Münsterland-Giro sein letztes Rennen. Mit Alpecin Cycling sprach der ehemalige U23-Weltmeister im Cyclocross, was ihn dazu bewegte, aufzuhören; an welche Rennen er sich besonders gern erinnert und warum sein Team so erfolgreich ist.

Was hat Sie zu dem Entschluss bewogen, nach dieser Saison Ihre Karriere zu beenden?

An der täglichen Arbeit aufs Rad zu steigen, ist mir die Freude verlorengegangen. Natürlich weiß ich auch, dass es bei jedem Berufstätigen Tage gibt, an denen er seinen Job gerne und mal weniger gerne macht. Aber die Tage, an denen es wirklich schwierig war, aufs Rad zu steigen, die haben überhandgenommen. Das war letztendlich der entscheidende Punkt. Dann kommen natürlich andere Sachen hinzu, wie beispielsweise das ständige Unterwegssein. Irgendwann beginnt man dann auch, sich an allen anderen Sachen zu reiben und zu stören.

Was ich immer noch gerne mache und gemacht habe, ist Radrennen zu fahren. Aber das konnte es auch nicht mehr rausreißen. Denn Radrennen fahren ist in vielen Fällen nur abwarten. Das liegt mir auch nicht so. Es ging dann so weit, dass es selbst im Rennen für mich zu eintönig wurde. Das ergibt dann irgendwann ein Gesamtbild. Hinzu kommt noch, dass ich irgendwann sowieso mal aufhören muss. Ehrlich gesagt, habe ich jetzt auch Lust auf den nächsten Schritt, auch wenn ich noch gar nicht so richtig weiß, wohin er mich bringt.

Ich betrachte das selbst auch gar nicht als einen so extremen Schritt und habe auch gar keine Angst davor. Im Gegenteil: Ich bin sehr interessiert an dem, was jetzt kommt. Obwohl ich noch nichts habe.

Sie sprachen gerade davon, dass dieses Abwarten nicht so Ihre Sache sei.

Früher als Crosser war mir das Ergebnis egal. Da bin ich immer offensiv gefahren – und wurde am Ende abgehängt. Das war aber gar nicht so schlimm. Jetzt auf der Straße kann ich aber nicht genauso fahren wie die Kapitäne, da ich solch ein Stehvermögen nicht besitze. Und dann gehört halt auch das Warten zum Job. Das ist dann ein bisschen mein Problem. Wenn bei einer Rundfahrt eine Sprintetappe ansteht, dann musst du halt den ganzen Tag sitzen bleiben; oder wenn die letzten 40 Kilometer der Strecke besonders hart sind, dann musst du die ersten 150 Kilometer sitzen bleiben und warten. Um sich dann mit dem gesamten Feld auf die eine Engstelle zu stürzen, wo es dann wichtig wird.

Meinem Naturell entspricht es, anzugreifen anstatt sitzen zu bleiben. Aber in den meisten Situationen wäre das unprofessionell und nicht ergebnisorientiert. Denn die meisten Ausreißergruppen sind ja letztendlich zum Scheitern verurteilt. Da musste ich mich dann einfach zusammenreißen und mir sagen, ich gehe nicht mehr in die Gruppe. Dann ist es aber ein langweiliger Tag für mich. Dann macht auch Radrennen fahren kein Spaß mehr in den Zeiten, in denen faktisch nicht wirklich Rennen gefahren wird.

Ihre Erfolge – zwei Etappensiege – in diesem Jahr konnten Sie auch nicht umstimmen?

Interessanterweise hat mich das Karriereende zu diesem Zeitpunkt schon beschäftigt. Und auch die guten Ergebnisse und Siege haben es nicht geschafft, mich umzustimmen. Da die anderen Faktoren, die ich vorher genannt habe, immer noch die gleichen sind. Immer, wenn es gut läuft, dann wünsche ich mir natürlich Momente, dass es immer so sein soll. Da gab es aber viel mehr Momente, wie beispielsweise im Training, die nicht so schön waren. Das brauche ich und will ich eigentlich nicht mehr. Ich weiß auch, wie viel Arbeit es war, in die Verfassung zu kommen, diese Rennen überhaupt gewinnen zu können. Jetzt wieder einen Winter durchziehen, um noch eine Stufe höher zu kommen, hat mich nicht gereizt – im Gegenteil. Denn in meinem Alter und mit meiner sportlichen Vorgeschichte als Cyclocrosser muss ich gegenüber einem alteingesessenen Straßenfahrer noch ziemlich viel aufholen. Mir fehlen da die Kilometer. Mir fehlt immer noch eine Grand Tour, die wird aber auch nicht kommen, dessen bin ich mir bewusst.

Da ich den Anspruch habe, das Maximale aus mir herauszuholen, und in den Rennen gut zu sein und auch mit den Fahrern zu konkurrieren, die schon drei große Landesrundfahrten gefahren sind, müsste ich im Training noch unglaublich viel mehr leisten. Da muss ich ganz einfach sagen, das ist mir dann zu viel. Das ist mir zu viel sturer Arbeit.

Muss man als Radprofi stur im Kopf sein?

Oh, jetzt muss ich aufpassen, was ich sage (lacht). Bei sechs Stunden langem Training muss man auch stur im Kopf sein und einfach nur fahren. ‚Denk nicht so viel drüber nach‘ – das war ein Tipp, den ich oft bekommen habe. Das war aber nicht die Richtung, in die ich mich hin entwickeln wollte. Meinen Kopf abschalten. Es gibt bestimmt noch mehr in der Welt, was es zu entdecken gilt.

Sie sprachen darüber, dass Sie sich auf das freuen, was jetzt kommt. Gibt es schon konkrete Pläne?

Ich habe noch keinen Deal mit irgendjemandem. Ich habe so einige Ideen. Im Hinterkopf spukt auch noch mal ein Gedanke, dass ich studieren könnte, dann muss das aber auch Sinn machen. Zudem muss ich auch Geld verdienen. Meine Gedanken gehen in alle Richtungen. Ich nutze auf jeden Fall die Zeit nach meinem letzten Rennen, um mich da ein bisschen zu ordnen. Eigentlich gibt es noch sehr viele Möglichkeiten.

Wäre eine Position im Profisport wie Sportlicher Leiter etwas für Sie?

Das ist auf jeden Fall eine Option, mit der ich mich genauer beschäftigen werde.

Paul Voss, Ex-Profi, Ihr Freund und Trainer, startet ja gerade eine neue Karriere als Gravel-Profi. Wäre das auch etwas für Sie?

Eine Sache ist wichtig zu berücksichtigen. Ich weiß nicht, wie es mir geht, wenn ich zwei Monate nicht Rad gefahren bin. Momentan reizt mich es nicht so, etwas mit aktivem Radfahren zu machen. Das Graveln als Profi ist auch dadurch gekennzeichnet, dass lang gefahren wird. Und mir liegt „lange“ einfach nicht. Weder physisch noch mental.

Allerdings habe ich jetzt auch eine bestimmte eingefärbte Sicht auf Dinge. Mein Jahr war relativ lang und intensiv – erst vollgepackt mit großen Zielen, jetzt mit der Entscheidung aufzuhören. Vielleicht ändert sich die Sicht auch, wenn ich etwas Distanz zu allem habe. Jetzt habe ich kein Bock mehr, auf Radfahren.

Wenn Sie zurückblicken, an welche Rennen erinnern Sie sich besonders gerne?

Es gibt ein Cyclocross-Super Prestige-Rennen in Gavere 2013, bei dem ich im Sprint gegen Sven Nys (amtierender Cyclocross-Weltmeister, Anmerk. der Redaktion) verliere. Das ist zwar ein bisschen enttäuschend, aber trotzallem ist es auch ein Höhepunkt in meiner sportlichen Karriere. Ich hatte einen wirklich guten Tag, in der letzten Runde allerdings ein Kettenklemmer, bin aber wieder zu Nys zurückgekommen und mit ihm zusammen auf die Zielgerade gefahren. Da er in seinem Leben schon mehr Finals gefahren war als ich, stellte er sich da viel schlauer an und überraschte mich. Ich habe leider nie ein großes Cyclocross-Rennen gewonnen, das ist ein Punkt, der mich stört. Das hätte solch ein Tag sein können.

Dann noch Strade Bianche in diesem Jahr, dass ja Mathieu (van der Poel, Anmerkung der Redaktion) gewonnen hat. Da war ich auch dabei und habe meine Rolle gespielt. Erst in der Spitzengruppe und als wir eingeholt wurden, habe ich ihn vor dem wichtigen Gravelsektor nach vorne gefahren. Das war schon etwas Besonderes, dabei gewesen zu sein und auch einen Teil zum Erfolg beigetragen zu haben.

Und last bot not least mein Etappensieg in Norwegen. Da bin ich sehr stolz drauf, dass ich gegen Niki Terpstra gewonnen habe. Das ist schon sehr speziell.

Warum?

Zum einen habe ich an diesem Tag auch versucht, alles richtig zu machen. Und am Ende auch so gut wie möglich zu sein. Das macht mich dann auch stolz. Da kommt natürlich dann auch das Thema auf, dass ich meinen Kopf gar nicht abschalten durfte. Zum anderen ist Terpstra natürlich auch ein schwer einzuschätzender Gegner. Der kann mich auch berghoch mal abhängen, obwohl er 10 Kilo mehr wiegt. Und man darf sich dann auch nicht in Sicherheit wiegen, dass man ihn im Sprint berghoch unter Kontrolle hat.

War das ein Tag, an dem Sie morgens aufgestanden sind und wussten: ‚Das heute wird mein Rennen‘?

Ich habe mich schon vorher mit Spitzengruppen beschäftigt aber diese innere Einstellung und all das was damit verbunden ist, passiert im Endeffekt erst, wenn man in der Spitzengruppe mit dabei ist. Aber dann mit vollem Commitment.

Wir haben uns zum letzten Mal bei der Team-Präsentation im Jahr 2020 in Amsterdam persönlich gesehen. Viel ist seitdem passiert, das Team hat unter anderem Flandern gewonnen, bei allen drei Grand Tours Etappensiege geholt und noch vieles mehr. Hätten Sie damals gedacht, dass sich Ihre Mannschaft so entwickelt?

Ich habe damals schon gewusst, dass Mathieu das Potenzial besitzt, dass er eigentlich alles gewinnen kann. Die Frage war nur in welchem Zeitraum. Und auch bei Correndon-Circus war schon abzusehen, dass Tim Merlier ein superschneller Fahrer ist.

Ich finde diese Entwicklung – aber ehrlich gesagt – auch nicht unlogisch. Es war schön, dies alles zu sehen und auch in Teilen mitzuerleben, aber es war für mich persönlich jetzt keine Riesenüberraschung. Ich weiß, dass das Team immer schon am Optimum gearbeitet hat. Und dass man eigentlich nie mit dem Erreichten zufrieden ist.

Wenn alle im System in die gleiche Richtung schauen und das gleiche Ziel haben, dann kommt der Druck auch nicht von der Teamleitung. Sondern von jedem einzelnen selbst. Zumindest ist und war das immer so in meinem Fall. Manchmal wäre ich auch gerne in irgendeinem Team gesessen, hätte einfach mein Geld verdient und wäre irgendwo Rennen gefahren. Am besten ohne Kapitän und ohne Taktik. Das denkt man sich immer dann, wenn man gerade um Positionen kämpft oder wenn man sich zu viele Gedanken macht. Aber immer das Optimale rauszuholen, ist der Stil und die Handschrift des Teams und entspricht voll und ganz meiner Eistellung – mit allen Konsequenzen. Dadurch gibt es einerseits auch mehr Höhepunkte. Andererseits ist man natürlich dann auch öfter enttäuscht, wenn es nicht so läuft. Denn: Wer keine Ziele hat wird auch nicht enttäuscht. Ich kenne die beiden Brüder schon lange und bin in ihren früheren Teams gefahren. Und daher ist die Entwicklung des Teams logisch.

Woher kommt dieses Strebens nach Perfektion? Warum ist die DNA der Brüder Roodhooft so speziell?

Eine gute Frage. Ich glaube DNA sagt schon sehr viel. Sie haben einen natürlichen Drang nach Verbesserung; und zwar immer und bei allem. Hinzu kommt noch, dass sich daraus auch ständig neue Chancen ergeben und in den meisten Fällen diese Chancen auch wahrgenommen werden. Das war mit Niels Albert so und jetzt mit Mathieu. Sie sind mit Mathieu gewachsen und er mit Ihnen.

Ich will das kurz an einem Beispiel erklären. Flandern-Rundfahrt. Das Teammanagement gibt sich nicht damit zufrieden, dass man eingeladen ist und dort am Start steht, sondern will beim gesamten Drumherum alles richtig machen. Da wird im positiven Sinn total am Rad gedreht, um auf das Niveau der World Tour-Teams zu kommen, zumindest was die Vorbereitung und auch die Durchführung betrifft. Die Entwicklung der Fahrer geht eben nicht so schnell. Das bedeutet, wenn Ineos dann 20 Leute an der Strecke stehen hat mit Flaschen und Laufrädern, dann braucht das Alpecin-Fenix auch.

Vieles resultiert auch aus der Ambition und dem Wunsch, Mathieu im Team halten zu wollen. Da stehen die beiden Brüder natürlich dann auch immer vor der Entscheidung was sie machen, um solch einen Fahrer zu halten.

Aber all das muss man natürlich auch gut umsetzen können, sich nichts vormachen und zu sich selbst auch ehrlich zu sein. Darin sind sie auch gut.

Was nehmen Sie sich für ihr letztes Rennen, den Münsterland Giro am 3. Oktober, vor?

Ich möchte auf jeden Fall finishen – und zwar im Feld. Einerseits hätte ich Lust, so zu fahren wie ich immer gefahren bin, also Abteilung Attacke und in die Gruppe zu gehen. Wenn die Gruppe aber zu klein und zu schwach ist, und dahinter richtig Radrennen gefahren, dann läuft man Gefahr zu früh eingeholt und dann hinten raus noch abgehängt zu werden. Deswegen werde ich versuchen, die Füße still zu halten und schauen, dass ich mit im Feld bin. Meine Familie und auch Freunde kommen natürlich auch, und die sollen nicht eine Viertelstunde warten müssen, bis ich dann hinter allen anderen ins Ziel gerollt komme.

Fotos: Photonews.be