Fährt Mathieu van der Poel seine letzte Cyclocross-Weltmeisterschaft?
Zieht sich Mathieu van der Poel nach den Weltmeisterschaften in Tabor vom Cyclocross zurück – zumindest temporär? Der Mann, der diesen Sport seit knapp einem Jahrzehnt entscheidend mitprägte und dessen Leistungen gerade in drei unterschiedlichen Disziplinen – Cyclocross, Straße und Mountainbike – dazu führte, dass der Crosssport davon am meisten profitierte.
Die Aussagen, die er im Rahmen des Weltcup-Rennens in Hoogerheide Ende Januar traf, könnten drauf schließen lassen. Dort waren Sätze von ihm zu hören wie „einen Winter nur in Spanien verbringen“, „das Ziel im Winter ist nur die WM“, „Cross im Winter muss sinnvoll für mich sein.“
Ganz neu sind diese Gedanken nicht. Schon zu Beginn der Saison äußerte er sich in einem Interview gegenüber Wielerflits ähnlich. Verständlich, hat er doch in diesem Sport alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Mit Ausnahme des Allzeit-Rekords von sieben WM-Titeln.
Für den Fortbestand und die Popularität dieses Sports wäre ein kompletter Rücktritt jedoch fatal. Denn der Crosssport steht und fällt mit seinen Protagonisten. Nachdem Tom Pidcock und Wout van Aert nur noch homöopathisch dosiert Cross-Rennen fahren, könnte diese Disziplin international wieder in der Versenkung verschwinden. Dann könnte es zu einer rein belgisch-niederländischen Angelegenheit werden wie viele Jahre zuvor.
Gerade van der Poel und van Aert, die zusammen mit Tadej Pogacar und Remco Evenepoel zu den „Big Four“ im Straßenradsport zählen und auch außerhalb der Radsport-Bubble Menschen ein Begriff sind, konnten diese Strahlkraft bislang auf den Crosssport transferieren.
Alpecin Cycling hat daher Argumente für und gegen einen möglichen Abschied von Mathieu van der Poel vom Cyclocross aufgelistet.
MvdPs Abschied vom Cyclocross: Das für und wider
Für: Das spricht für einen Abschied vom Cyclocross
Neue Heimat Spanien
Van der Poel trainiert nicht nur mit seinem Team viel in Spanien. Er besitzt an der Costa Blanca auch ein Domizil. Und die Großwetterlage belegt, dass man in Spanien durchaus den ganzen Winter in der Sonne ohne Unterbrechung trainieren kann. Hinzu kommt, dass er hier auch mit starken Fahrern – nämlich Rivalen wie Remco Evenepoel und Tadej Pogacar – trainieren kann. Er ist sozusagen unter Gleichen sowie gänzlich ungestört von den niederländisch und belgischen Medien.
Keine „ernsthafte“ Konkurrenz mehr
Gibt es bei der Cyclocross-Weltmeisterschaft keine Überraschung, ist das Beleg dafür, dass van der Poel die „Gegner ausgehen“. Natürlich kann er ein Rennen verlieren wie in Benidorm – allerdings stellt so etwas eher die Ausnahme dar. Aber es gibt keinen Zweifel, die „großen“ Gegner haben das Schlachtfeld geräumt. Tom Pidcock und Wout van Aert, die ihm austrainiert und fokussiert Paroli bieten können und ihn so dazu zwingen, sein bestes Können zu zeigen, nehmen Abschied. Er ist als Top-Allrounder sozusagen allein auf weiter Flur gegen die Cross-Spezialisten.
Konkurrierende Ziele
Wer kennt sie nicht? Die konkurrierenden Ziele! Spaß beiseite! Cyclocross, Cross-Country-Mountainbike und Straßenradsport. Das allein sind drei Disziplinen, in denen sich van der Poel mit den absoluten Spezialisten misst. Die Ziele sind noch mal um einiges mehr. Weltmeistertitel, Olympia-Gold, Klassikersiege, Grand Tour-Etappengewinne. Jedes einzelne benötigt einen anderen physischen Aufbau, sprich Training, und verlangt eine eigene mentalen Fokussierung. In Summe kostet es letztendlich unglaublich viel Energie.
Während Wout van Aert sich in den Urlaub nach der Straßensaison 2023 verabschiedet hat, trainierte van der Poel für die ersten Cyclocross-Rennen. Während die Konkurrenz auf der Straße in der wärmenden Sonne fünf bis sechs Stunden in der Wärme pedalierte und Konversation betrieb, fuhr van der Poel Cross-Rennen bei Minusgraden und Regen, war angespannt und hat sich ausgepowert. Übertrieben beschrieben, hetzt er von einem Ziel zum nächsten.
Ist der Rücken immer noch die „Achillesferse“?
Zugegeben rein spekulativ, denn Mathieu van der Poel hat in letzter Zeit nicht mehr darüber geredet. Aber vielleicht hat sein Rücken am Ende dieser lange Cross-Saison begonnen, zu zwicken. Er selbst bezeichnet ihn als seine Achillesferse und weiß, dass im Gegensatz zum „auf der Straße fahren das Crossen und Mountainbiken für die Probleme, die er hatte, nicht gerade zuträglich sind.
Zu hoher Erwartungsdruck
Er hat im Cyclocross schon alles gesehen, sprich gewonnen. Für ihn zählt praktisch nur noch der Weltmeistertitel. Er erwähnte gegenüber Wielerflits bereits vor der Cross-Saison: „Eigentlich fahre ich Rennen nur zum Spaß. Und natürlich ist der Weltmeistertitel immer noch ein wichtiges Ziel. Eigentlich sehe ich den Rest der Saison eher als Winteraktivität. Sportlich kann ich da nicht mehr viel gewinnen.“ Im Umkehrschluss bedeutet das, dass für ihn die Saison ohne WM-Titel ein Misserfolg wäre – trotz seiner zwölf Siege.
Hinzu kommt noch, dass diese Fokussierung auf das eine WM-Rennen – one hit – einen vergleichsweise langen Vorbereitungszeitraum beansprucht. Trainiert er dagegen für die Klassikersaison, so hat er viel mehr Chancen. Allein drei bis vier Monumente im Frühjahr sowie weitere prestigeträchtige Rennen, in denen er immer wieder eine Chance zum Siegen bekommt.
Wider: Das spricht gegen einen Rücktritt vom Cyclocross
Zukunftsmusik oder hat er nur laut gedacht?
Wer viel und oft gefragt wird, dem fällt hie und da was Neues beziehungsweise anderes ein. Das Phänomen kennen viele Menschen, die im Rampenlicht stehen. Wer weiß, vielleicht hat van der Poel nur laut gedacht beziehungsweise die „Widers“ stärker in den Mittelpunkt des Interviews gestellt. Gerade in einem Jahr mit den Olympische Spielen ist es offensichtlich, und geradezu logisch, dass er sich zu so etwas Gedanken macht. Und diese fallen dann einmal kurz angesprochen medial auf fruchtbaren Boden.
Hinzukommt, dass er am Ende eines anstrengenden Trainingsblocks, der nicht nur die Beine müde macht, nach seiner Perspektive gefragt wurde.
MvdP ist der Boss im Cross
Er weiß, wo er herkommt, und dass er ohne Cyclocross und das persönliche Umfeld von den Brüdern Roodhooft, aller Wahrscheinlichkeit solch einen Erfolg und Aufstieg nie gehabt hätte. Warum sollte er das alles aufs Spiel setzen und so auch viele Supportern förmlich vor den Kopf stoßen? Was nicht dagegen spricht, in einer Saison mal weniger Rennen zu fahren oder auch mal Titelkämpfe auszulassen.
Auf der Jagd nach dem Titelrekord
Das einzige Ziel, das ihn im Cyclocross noch reizt und antreibt, ist der All-Zeit-Rekord von Erik De Vlaeminck. Der Belgier hat Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sieben Weltmeistertitel gewonnen. Davon ist van der Poel nicht mehr weit entfernt – und da könnte langfristig doch ein erstrebenswertes Ziel sein.
Er liebt das Crossen
Als Vorbereitung auf die Straßensaison helfen Cyclocross-Training und -Wettkämpfe, um die Skills zu schulen und Sinne zu schärfen. Die Automatismen, die er durchs Cyclocrossen erwirbt und die Fähigkeit zu antizipieren und zu improvisieren, kann er auf er Straßen gar nicht so risikoarm trainieren. Das weiß nicht nur sein Management, sein Trainer, sondern am besten er selbst.
Der Cyclocross-Parcours ist seine Spielwiese. Mit der verbindet er auch Kindheitserinnerungen. In den Sandkisten, Wiesen und Hügeln findet er seinen Frieden. Im Training beziehungsweise zum Spaß sicher mehr als im Rennen.
Zukunft im Cyclocross für Mathieu van der Poel weiter offen
Allerdings bei allem Für und Wider sagt der Protagonist auch im Interview in Hoogerheide: „Ich habe mich noch nicht entschieden.“ Man darf auf jeden Fall gespannt sein, wie es weitergeht. Viel wird auch davon abhängen, wie die Saison 2024 auf der Straße und bei Olympia verläuft. Und die steht ja gerade erst vor der Tür.
Fotos: Fellusch