Jay Vine über seine Siege bei der Vuelta und die WM in Australien

23.09.2022

Der australische Alpecin-Deceuninck-Profi war neben Gesamtsieger Remco Evenepoel der Shooting-Star der Vuelta a Espana 2022. Vine gewann zwei schwere Bergetappen und trug bis zu seinem sturzbedingten Ausscheiden das Trikot de besten Bergfahrers. Im Interview mit Alpecin Cycling spricht der amtierende Zwift-Weltmeister über seine jüngsten Erfolge, die Weltmeisterschaften und den Straßenradsport in Australien sowie über seine Ziele in der näheren Zukunft.

Worin liegen die Unterschiede zwischen den Rennen in Down Under und in Europa?

Generell unterscheidet sich der Radsport gewaltig. Ich habe bisher in Australien an einem größeren UCI-Veranstaltung, neben den nationalen Meisterschaften teilgenommen: Die Herald Sun Tour, ein 2.1-Etappen-Rennen, das in Europa mit dem Etoile de Besseges vergleichbar ist, und an dem 4 WorldTour-Teams teilnehmen. Beim Besseges waren es dagegen 7 WorldTour-Teams. Auch im Amateurbereich sind die Rennen sehr unterschiedlich. Je nach Kategorie sind gerade mal 50 Fahrer am Start. Bei nationalen Wettbewerben sogar nur 20 bis 25, wobei jeder seinen eigenen Rennstil fährt. Ich habe ziemlich früh gelernt, der Stärkste im Rennen zu sein. Und so lernt man auch, wie man damit umgeht, dass alle gegen einen fahren, weil man die Bedrohung ist  

Hatten die letzten in Australien stattfindenden Straßen-Weltmeisterschaft 2010 in Geelong einen Einfluss auf Ihre Karriere beziehungsweise war dieses Event so etwas wie eine Initialzündung für Sie?

Nein, ich habe nicht einmal den Sieg von Cadel Evans bei der Tour de France 2011 gesehen. Das erste Straßenrennen, das ich je im Fernsehen verfolgt habe, war 2014 der Sieg von Vincenzo Nibali bei der Tour de France, gefolgt vom Giro di Lombardia. Das sind die beiden Ereignisse, die mich für den Straßenradsport begeistert haben.

Welcher ist Ihr Favorit für das Männerrennen in Wollongong?

Mein Favorit ist Tadej Pogacar. Ich habe gesehen, wie Pogacar den Sprint in Kanada gewonnen hat. Ich denke, man kann gut auf ihn wetten. In meinen Augen ist das französische Team das stärkste, das haben sie vergangenes Jahr gezeigt, als sie alle für Julian Alaphilippe gearbeitet haben. Aber ich weiß nicht, ob er so gut in Form sein wird wie in den vorangegangenen beiden Jahren als er den Titel gewann.

Glauben Sie wie viele Experten auch, dass der Kurs eher die Puncheure bevorzugt?

Es ist auf jeden Fall ein Kurs für Puncheure. Die Rolle Australiens besteht zweifellos darin, alles zusammenzuhalten und Michael Matthews im Sprint aus einer kleinen Gruppe zu lancieren. Aber ich glaube, wenn Pogacar geht, wird Matthews nicht folgen können. Wir werden sehen, was dort passiert.

Haben Sie persönlich mit Ihren zwei Etappensiege bei der Vuelta gerechnet oder hat Sie Ihr Abschneiden selbst überrascht?

Ich wusste, aufgrund der guten Werte um meine Form. Ich hatte einen wirklich guten Trainingsblock, einschließlich eines Höhenlagers mit dem Team, und alle Anzeichen waren wirklich positiv. Ich habe seit der Grand Tour 2021 zusätzlich Gewicht verloren. Es ging nur noch darum, das alles zusammenzubringen, um in einem echten Rennen ein Ergebnis zu erzielen. Und nachdem ich einige taktische Fehler korrigiert hatte, die ich in noch beim Rennen Norwegen gemacht hatte, wo ich hinter Remco Evenepoel Zweiter wurde, war ich zuversichtlich. Aber es ist trotzdem ein unglaubliches Gefühl, endlich ein Rennen zu gewinnen. Denn, ich bin dieses Jahr schon 4- oder 5- Mal Zweiter geworden.

Wurden Sie nach Ihrem ersten Etappensieg im Peloton als Konkurrent ernster genommen?

Ich glaube nicht, dass die Fahrer mich nicht ernst genommen haben. Nach der Arctic Tour of Norway hat mich Remco ernst genommen, glaube ich. Ich denke also nicht, dass ich den Etappensieg als Bestätigung brauchte.

Wo wird Sie Ihr Weg in der Zukunft hinführen:  Sehen Sie sich als Klassementfahrer bei Grand Tours oder werden Sie weiterhin auf Etappenjagd gehen?

Ich möchte auf jeden Fall weiterhin Etappen gewinnen. Da ich noch nicht um die Gesamtwertung bei World Tour-Etappenrennen gekämpft habe, werde ich mit einwöchigen Rennen beginnen und dort aufs Klassement fahren und dann zu den große Landesrundfahrten übergehen. Ich denke, das ist ein kluges Sprungbrett. Dafür muss ich anfangen, auf WorldTour-Ebene auf die Gesamtwertung zu fahren.

In welchen Bereichen sehen Sie noch Potenzial und wie können Sie sich dort verbessern?

Natürlich ist das Zeitfahren ein großer Bereich, in dem ich mich verbessern kann, aber es ist auch eine große Investition, die Aerodynamik zu verbessern. In diesem Punkt gibt es noch einiges zu tun. Außerdem muss man sich mit der Ernährung beschäftigen, um das Gewicht und den Gewichtsverlust zu stabilisieren. Und die maximale Aufnahme von Kohlenhydraten im Rennen ist ebenfalls ein großes Thema.

Haben Sie konkrete sportliche Ziele für die Zukunft?

Ja, ich würde gerne nationaler australischer Meister werden. Und die Tour Down Under ist ein großes Ziel in meiner Karriere. Ich möchte die Gesamtwertung dieses Rennen gewinnen. Und natürlich sind weitere Erfolge bei großen Rundfahrten ein weiteres Ziel für mich. Aber ich betrachte es einfach nur als „ein Rennen im Moment“.

Welche Rennen werden Sie im Herbst 2022 noch bestreiten und welche Ziele haben Sie dort?

Ich hoffe, dass ich zumindest den Giro dell’Emilia und die Lombardei-Rundfahrt bestreiten werde. Meiner Verletzung verheilt gut, die Fäden sind alle gezogen. Ich arbeite an meiner Beweglichkeit. Ich kann mich zu 95 Prozent wieder voll bewegen. Ich habe großes Glück, dass ich keine Schnittwunde oder ähnliches hatte.

Haben Sie schon so etwas wie ein Lieblingsrennen?

Mein Lieblingsklassiker ist die Lombardei-Rundfahrt – obwohl ich sie noch nie gefahren bin. Aber ich glaube, ich würde auch sehr gerne die Classica San Sebastian fahren. Diese Anstiege im Baskenland und das Fahren durch diese Gegend gehören definitiv zu meinen Lieblingsplätzen im Rennen.

Fotos: Photonews.be