„Teamzeitfahren ist mental die anspruchsvollste Aufgabe für Radprofis“

18.08.2022

Das Mannschaftszeitfahren ist eine ganz besondere Disziplin und erfordert eine spezielle Vorbereitung in puncto Training, Taktik und Technik. Wie sich die Profis aber auch die Mitarbeiter auf ein solches Teamzeitfahren vorbereiten, erklärt Kristof De Kegel, Performance Manager beim Team Alpecin-Deceuninck im Interview mit Alpecin Cycling.

Wie unterscheiden sich Einzelzeitfahren und Mannschaftszeitfahren voneinander?

Einzelzeitfahren oder Individual Time Trial – das Wort sagt eigentlich schon alles. Es gibt Fahrer, die es hassen oder es wirklich mögen. Sie bereiten sich individuell darauf vor, und es basiert auf ihren ganz eigenen körperlichen Fähigkeiten. Team Time Trial beziehungsweise Mannschaftszeitfahren hingegen ist eine Teamaufgabe und der Erfolg hängt wirklich von der Leistung jedes Einzelnen innerhalb dieses Teamgefüges ab.

Ist das Fahren im Team für den Athleten stressiger, weil er mehr Verantwortung trägt?

Zunächst einmal sind sich die Fahrer völlig bewusst, dass sie auch den Schwächsten brauchen, um so erfolgreich wie möglich zu sein. Aber ja, sie sagen auch, dass es ein ziemlich stressiger Job ist, als Einzelsportler am Mannschaftszeitfahren teilzunehmen, weil die Verantwortung groß ist. Jeder ist sich bewusst, dass wegen ihm etwas schief gehen kann. Keiner will der Schwächste sein. Der Fahrer muss sehr fokussiert und konzentriert sein, um keine technischen Fehler zu machen. Sie fahren in der Formation sehr eng beieinander, denn die Aerodynamik spielt eine entscheidende Rolle. Es ist also nicht nur körperlich, sondern auch mental die anspruchsvollste Aufgabe für Radfahrer. Deshalb ist jeder überglücklich, wenn eine Leistung beim Teamzeitfahren sehr gut läuft oder man es sogar gewinnt.

Worin liegt der Schlüssel zum Erfolg bei einem Mannschaftszeitfahren?

„Das Ziel ist ganz einfach, so schnell wie möglich zu sein. Beim Mannschaftszeitfahren einer Grand Tour muss man jeden einzelnen Fahrer einsetzen. Sie haben unterschiedliche physische und mentale Fähigkeiten: Wenn man ein Team für das Mannschaftszeitfahren zusammenstellt, muss man sie in eine Reihenfolge bringen, die auf der Biodynamik, der Physik, der Körpergröße und der Stärke der Fahrer basiert – all diese Dinge sind sehr wichtig, um eine „big engine“ (große Maschine) von acht verschiedenen Motoren antreiben zu lassen. Man sollte diese Motoren auf optimale Weise einsetzen. Es gilt, den richtigen Platz im Team zu finden, damit die Geschwindigkeit hoch bleibt. Und natürlich spielen auch taktische und technische Dinge eine große Rolle für den Erfolg.

Warum können auch Sprinter oder Puncheure zum Erfolg bei Mannschaftszeitfahren beitragen?

Tatsächlich sieht man oft, dass Sprinter und Puncheure im Teamzeitfahren wirklich gut sind. Das ist der Unterschied zwischen Einzel- und Mannschaftszeitfahren. Beim Einzelzeitfahren mögen es die Sprinter nicht, wenn es zu lang ist und sie keine Chance haben, sich zu erholen, aber beim Mannschaftszeitfahren sind die Sprinter meistens sehr technisch und in der Lage, nah am Rad zu fahren, sind gut geschützt vor dem Wind und sie können nach den Kurven gut beschleunigen. Wenn man 8 Fahrer hat, absolviert jeder Fahrer ein 15 bis 30 Sekunden langes Hochleistungsintervall und kann sich dann für zwei bis drei Minuten erholen. Das ist eigentlich das, was die Sprinter und Puncher am besten können, und wenn man dazwischen einen wirklich großen Motor platzieren kann, der auch längere Intervalle fahren kann, dann hat man eine gute Mischung von Fahrern, die beim Teamzeitfahren mitmachen können.

Sie sagten, der Schlüssel ist, die Geschwindigkeit hochzuhalten. Um das zu erreichen, lässt man dann die stärkeren Athleten länger vorne in der Führung fahren, als die schwächeren Fahrer?

Man kann viel über die Leistung machen, aber beim Teamzeitfahren geht es mehr um die Geschwindigkeit, Sie ist das Einzige, was zählt. Wenn die Geschwindigkeit abfällt, kostet es immer viel Energie, die Geschwindigkeit wieder zu erhöhen. Also wird ein Geschwindigkeitsabfall vermieden. Die Länge der Führungen wird von Fahrer zu Fahrer auf der Grundlage ihrer körperlichen Fähigkeiten angepasst. So ist der eine Fahrer perfekt für ein 30 bis 40 Sekunden langes Intervall und der andere kann länger fahren. Das ist von Fahrer zu Fahrer unterschiedlich.

Ein schönes Beispiel dafür ist Tony Martin, der bei der Weltmeisterschaft vor ein paar Jahren über eine Minute lang zog, was drei- bis viermal länger war als das kürzeste Intervall des anderen Teamkollegen. Aber selbst dort war die kürzeste Führung des schwächsten Fahrers sehr wichtig für die Gesamtleistung, da er den ‚großen Motoren‘ die Möglichkeit gab, sich zu erholen. Selbst 12 bis 15 Sekunden von zwei Fahrern machen fast 30 Sekunden zusätzliche Erholung bei jedem kompletten Wechsel aus.

Wenn diese fehlen, lässt sich anhand der Daten sehen, dass die stärksten Fahrer dies spüren und keine Zeit haben, sich zu erholen, um so ihre beste Leistung zu bringen. Man muss immer die richtige Balance finden und das Gesamtziel verstehen, das Team in einer Erholungsphase recht lange zusammen zu halten. Sicherlich hängt das auch vom Streckenverlauf des Mannschaftszeitfahrens ab.

Wie bereitet sich ein Team auf ein Mannschaftszeitfahren vor?

Die Vorbereitung in unserem Team besteht für den Fahrer aus individuellen Efforts auf dem Zeitfahrrad, die so aerodynamisch wie möglich gefahren werden. Aber wenn wir zusammenkommen, um ein Mannschaftszeitfahren zu bestreiten, müssen wir das man das Gesamtbild betrachten. Man muss die Fahrer an die richtige Stelle setzen und die Erkenntnisse per visueller Informationen analysieren. Also Videos und Fotos machen und sehen, wie es funktioniert. Wir sind auf die Rennstrecke gegangen, um verschiedene Intervalllängen zu üben und verschiedene Positionen zu trainieren, um herauszufinden, wer an welcher Stelle am besten aufgehoben ist und um zu analysieren, wie sich das auf die allgemeine Leistung auswirkt.

Fotos: Alpecin-Deceuninck