Interview Silvan Dillier zur Tour 2021: „Unser Ziel ist ein Etappensieg“
In starker Form zeigt sich der Schweizer Silvan Dillier wenige Tage vor dem Start der Tour de France 2021. Knapp eine Woche vor dem Grand Depart in der Bretagne gewann der Alpecin-Fenix-Profi die Schweizer Meisterschaften. Im Interview mit Alpecin Cycling spricht der zweifache Mannschaftsweltmeister im Zeitfahren, Zweite von Paris Roubaix 2018 und Giro-Etappensieger 2017 über seine Aufgaben im Team, die Siegchancen seiner Equipe und über das, was die Tour de France so einzigartig macht.
Sie haben in Ihrer Karriere die Tour de France, aber auch schon den Giro d‘Italia und die Vuelta a Espana bestritten. Was macht die Frankreich-Rundfahrt so besonders?
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass die Tour de France um sich herum schon einen riesigen Hype erzeugt. Das hängt mit den Medien, der Aufmerksamkeit und natürlich der zeitlichen Terminierung zusammen. Die Tour liegt in den Sommerferien. Viele Menschen haben Zeit, sich das Rennen im Fernsehen anzuschauen oder sogar im Urlaub nach Frankreich an die Strecke zu kommen. Aber grundsätzlich sind Vuelta und Giro kein bisschen weniger schwer einzuschätzen als die Tour. Der Unterschied ist einfach, dass bei der Tour jeder das Gefühl hat, er sei noch wichtiger. Das erzeugt dann einfach mehr Stress – auch im Peloton. Es entsteht mehr Druck auf den Fahrer – durch das Team und natürlich auch die Medien. Jeder denkt, das ist das Rennen überhaupt – und wir Fahrer müssen hier noch mehr fighten als sonst auch schon. Das ist eigentlich in meinen Augen komplett sinnlos. Andererseits muss man als Fahrer, der für die Tour de France nominiert wird, damit rechnen und letztendlich auch damit umgehen.
Die Tour macht also die Spielregeln. Dafür wiegt dann ein Etappensieg in Frankreich auch mehr als bei der Spanien- oder bei der Italien Rundfahrt…
Die Tour de France ist die größte Plattform, die wir Radsportler haben. Und zählt ja weltweit auch zu den größten Sportereignissen.
Ist die Teilnahme daran für einen Fahrer härter beziehungsweise anstrengender als bei den bei anderen großen Landesrundfahrten?
Ich würde sagen, die Tour ist physisch nicht viel härter als Vuelta und Giro. Aber mental ist es definitiv eine viel viel größere Challenge. Als Beispiel: Bei einer Sprintetappe beim Giro d’Italia sind vielleicht die letzten 30 Kilometer hektisch. Da muss man Position fahren, muss richtig bei der Sache und fokussiert sein. Sonst wird es gefährlich. Bei einer normalen Tour-Etappe entbrennt dagegen schon 70 bis 80 Kilometer vor dem Ziel tritt dieser Fight. Du hast das Gefühl, dass im nächsten Dorf schon die Ziellinie ist. Und dabei sind ja noch 70 Kilometer bis ins Ziel. Es sind also noch knapp 2 Stunden Radrennen zu fahren. Es macht schon einen enormen Unterschied, ob du dich eine Stunde im Finale voll fokussieren musst oder aber zwei Stunden. All das kostet sehr viel Energie in punkto mentaler Belastung. Ich rede von zwei Stunden voller Konzentration und Anspannung. Da wird dir kein Zentimeter geschenkt. Du fährst da Ellbogen an Ellbogen mit deinen Konkurrenten. Ein kleiner Schlenker, einmal nicht aufpassen, ein Rad touchieren – und du liegst am Boden. Die kleinste Unaufmerksamkeit kann schon fatale Konsequenzen nach sich ziehen. Deshalb ist die mentale Komponente bei der Tour de France viel entscheidender und härter als bei den beiden anderen Landesrundfahrten.
Betrachten Sie es als Auszeichnung oder Ehre bei der Tour zu starten?
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich die Tour de France nie viel größer eingeschätzt habe als den Giro oder die Vuelta. Die Tour de France hat zwar mehr Aufmerksamkeit, aber ich bin jetzt ja auch nicht nur geil darauf, ins Fernsehen zu kommen. Ich will meine Leistung zeigen und hatte vielleicht auch in der Vergangenheit bei anderen großen Rundfahrten die Möglichkeit, eigene Ambitionen wahrzunehmen. Wobei ich, wenn ich mit meinem damaligen Team BMC zur Tour gefahren wäre, dann wäre ich einfach ein Helfer gewesen. Somit war für mich der Reiz nicht ganz so da, immer nur die Tour de France zu fahren. Ich weiß jetzt nicht, ob man das gleich als Ehre sehen kann die Tour de France zu fahren. Apropos Ehre: Ich starte auch bei den Weltmeisterschaften für die Schweizer Nationalmannschaft. Ich bin stolz darauf bei solchen Wettkämpfen dabei zu sein, weil es definitiv auch ein Zeichen ist, dass ich von der Leistung her zu den Besten gehöre. Aber ich will mich nicht auf diesen Lorbeeren ausruhen, sondern es ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. Man sollte sich nicht allein mit der Selektion zufriedengeben. Zur Tour gehen zu dürfen – da ist meiner Meinung nach das Ziel nicht hoch genug gesteckt. Ich denke, man sollte das Ziel haben, das Rennen in seiner eigenen Art und Weise animieren zu können, ob man dann auf Etappensieg fahren kann, sei dahingestellt. Aber man kann ja auch einen super Job machen für einen Team Kollegen., Der dann eine Etappe gewinnen kann. Also dies sollte eher der Ansatz sein, als zu sagen: ich will jetzt unbedingt an der Tour teilnehmen.
Was erwarten Sie persönlich von der Tour de France 2021?
In erster Linie werde ich Matthieu van der Poel und unsere beiden Sprinter Tim Merlier und Jasper Philipsen unterstützen. Es ist für uns ein großes Ziel, mit einem dieser Fahrer eine Etappe gewinnen zu können. Da ist es auch an mir, zu helfen, diese Ziele zu erreichen und dafür eine die bestmögliche Unterstützung zu geben. Und dann kann ich mir vorstellen, dass ich im zweiten Teil der Tour oder bei Etappen, die mir liegen, aus einer Fluchtgruppe heraus etwas zu probieren.
Wissen Sie schon, welche Funktion Sie im Sprintzug oder auf den ersten Klassiker-Etappen in der Bretagne übernehmen?
An welcher Position ich im Sprintzug sein werde, das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Das ist sicher auch etwas, was wir ziemlich spontan entscheiden. Das besprechen wir entweder am Tag davor oder am Morgen vor der Etappe. Das kann sich auch von Tag zu Tag ändern. Je nachdem wie das Finale ist. Vielleicht auch, wie viel Arbeit man schon am Tag davor verrichtet hat. Wie gut man sich erholt hat etc. Das hat alles Einfluss darauf, in welcher Reihenfolge wir unsere Arbeit am Tag X verrichten. Als Mathieu bei der Tour de Suisse die dritte Etappe gewonnen hat, bin ich in einen längeren Berg mit Vollgas reingefahren. Dann hat sich das Peloton erst in die Länge gezogen und dann geteilt. Da war mein Job auch schon getan. Das sind Rennszenarien, die Mathieu sehr liebt. Er braucht diese harten Rennverläufe wie bei den Klassikern, um erfolgreich zu sein. Am Ende geht es darum, dass wir ihm diese Ausgangsposition erarbeiten.
Kennen Sie schon die wichtigen Etappenfinals im Detail?
Ich habe mir die Etappen so genau noch nicht angeguckt. Aber im Team ist schon diskutiert worden, dass die erste Woche uns sehr viele gute Möglichkeiten bietet. Mûr-de-Bretagne –Ziel der zweiten Etappe – bin ich auch schon zwei, drei Mal gefahren; zuletzt 2018 als sie Etappenziel bei der Tour war. Es braucht einen guten Punch und ein gutes Stehvermögen. um da reüssieren zu können.
Mathieu hat definitiv die Qualitäten, um da ganz vorne mitzufahren. Da habe ich absolut keine Zweifel. Mein Job 2018 war es, Romain Bardet (GC-Favorit bei AG2R La Mondiale – Anmerk. der Red.), in Position zu halten; also das erste Mal gut über die Mûr-de-Bretagne zu kommen. Danach hatte er leider Defekt. Aber es ist definitiv wichtig, auch schon in einer guten Position das erste Mal dort hochzufahren und darüber zu kommen. Danach geht es so schnell, dass man schon wieder unten am Einstieg zum Anstieg ist. Wie gesagt, bei der Tour de France beginnt das Finale schon 70 Kilometer vor dem Ziel.
Wer als Hobbyradsportler mit Silvan Dillier und anderen aktuellen sowie ehemaligen Profis zusammen Rad fahren will, hat bei den Dillier Classic die Chance dazu. Dieses Jedermann-Event findet am 31. Juli 2021 in Gippingen statt. Die Teilnehmer können zwischen zwei Strecken auswählen – ca. 85 Kilometer mit 1900 Höhenmeter und ca. 40 Kilometer mit 900 Höhenmetern.
Fotos: Heinz Zwicky, photonews.be