Im Interview: Ex-Weltmeister Maurizio Fondriest über den Giro d’Italia 2019
Am 11 Mai startet der Giro d’Italia. Die 102. Austragung führt in 21 Etappen über 3.518,5 Kilometer von Bologna nach Verona. Für Alpecin Cycling hat sich Ex-Weltmeister Maurizio Fondriest den Parcours und die Startliste genauer ansehen. Fondriest, selbst zweifacher Etappensieger beim Giro d’Italia (1993 & 1995) und Kenner der italienischen Radszene, erklärt im Interview, was für Fans und Zuschauer besonders interessant ist.
Was sind aus Ihrer Sicht die Schlüsseletappen des diesjährigen Giros?
Für mich sind das zum einen das erste lange Zeitfahren von Riccione nach San Marino sowie die Bergetappen Pinerolo – Lago di Serru’, Saint.Vincent – Courmayeur, mit den vier langen Anstiegen und dem steilen Finale zum Schluss, und natürlich Loverè – Ponte di Legno.
Welche davon ist die Königsetappe?
Der 16. Tagesabschnitt von Lovere nach Ponte di Legno. Sie ist zum einen mit 226 Kilometern extrem lang und die Fahrer müssen über lange schwere Anstiege wie den Passo Gavia und den Mortirolo.
In diesem Jahr gibt es drei Zeitfahren mit insgesamt rund 59 Kilometern Länge. Glauben Sie, dass diese Tatsache die Chancen von Gesamtklassementfahrern mit Zeitfahrqualitäten erhöhen wird?
Ja. Im Vergleich zu den Vorjahren gibt es weniger Etappen mit Bergankünften, sodass die Zeitfahre letztendlich für den Sieg auschlaggebend sein können.
Der Giro 2019 führt zunächst in die westitalienischen Alpen – Piemont, Aostatal, Lombardei – und danach in die ostitalienischen Alpen – Dolomiten, Südtirol. Worin liegt der Unterschied dieser beiden „Regionen“?
Die Alpen sind insgesamt atemberaubend, aber jeder Abschnitt ist einzigartig. Die westliche Seite der Alpen prägen die hohen Gipfel von Cervino, Monte Bianco und Monte Rosa. Der östliche Teil mit den Dolomiten und Brenta-Dolomiten ist für mich die schönste und bekannteste Berglandschaft der Welt.
Die erste Bergetappe findet bereits in der frühen Phase dieses Giro statt. Glauben Sie, dass es in den westitalienischen Alpen bereits eine Vorentscheidung geben wird?
Es wird wahrscheinlich zu früh sein, um dort schon sagen zu können, wer gewinnen wird. Ich denke aber, dass die ersten Fahrer dieser Etappe, sicher zu den Hauptakteuren der 102. Ausgabe gehören.
Bei welchen Etappen können die Ausreißer in einer Fluchtgruppe einen Coup landen?
Auf den ersten 12 Etappen wird es sicher jeden Tag eine Ausreißergruppe geben. Ich vermute, dass die Sprinter-Teams das Rennen kontrollieren werden und es am Ende zu einer Sprintankunft des gesamten Pelotons kommt. Ich sehe aber gute Chancen, dass in der Finalwoche, auf den Etappen 17 von Commezzadura nach Antholz und 19 von Treviso nach San Martino di Castrozza, eine Flucht erfolgreich sein kann.
Es wird gesagt, dass die Tour das härteste Rennen der Welt ist, obwohl der Giro doch auch sehr schwierig ist. Liegt es an der Historie, dass die Tour im Peloton beliebter ist?
Ich denke, dass Giro, Tour und Vuelta gleichermaßen schwer sind. Meiner Meinung nach kann die Italien-Rundfahrt aber spektakulärer sein als die beiden anderen Rennen. Während des gesamten Rennens lassen sich die sehr vielfältigen und unterschiedlichen Landschaften bewundern, die man vom Norden in den Süden durchquert. In den vergangenen Jahren hat die Tour jedoch immer mehr an Prestige gewonnen und ist aus medialer Sicht dreimal so groß wie der Giro.
Es sieht so aus, als seien beim Giro die Kletterer die beliebten Helden und nicht die Sprinter. Sehen Sie das auch so?
Im Allgemeinen sind Kletterer in Rennen wie dem Giro die beliebtesten Fahrer. Denn sie sind es, die bis zum Ende um den Sieg kämpfen werden. Harte und lange Anstiege bedeuten Erschöpfung – es wird stark emotional und dramatisch. Daher lieben die meisten Girozuschauer es, die härtesten Etappen mit steilen Anstiegen zu beobachten, die letztendlich den Unterschied ausmachen.
Ist das auf die italienische Passion für den Radrennsport zurückzuführen?
Ich glaube nicht, sondern denke, dass Fans das auf der ganzen Welt so denken.
Wünschen Sie es sich bei Paris-Roubaix lieber matschig und schlammig oder trocken und staubig?
Trocken soll es sein. Bei Regen ist einfach die Sturzgefahr viel viel höher. Ich bin das mal in der U23 bei Regen gefahren. Das war ein Massaker. Die Gefahr, bei Matsch und Schlamm auf den Paves zu stürzen und sich schwer zu verletzen, ist dann riesengroß. Selbst wenn man selbst nicht betroffen ist, fühlt sich das gar nicht gut an.
Der Sieger des Jahres 2018, Chris Froome, wird in diesem Jahr nicht starten. Welche Fahrer stehen auf Ihrer Favoritenliste?
Tom Dumoulin, Simon Yates, Primoz Roglic, Vincenzo Nibali, Miguel Angel Lopez und Mikel Landa. Egan Bernal stand bis vor kurzem auch darauf, kann ja aber leider wegen einer Verletzung nicht antreten. Diese Fahrer gehören zu der Liste der potenziellen Kandidaten für das Rosa Trikot. Aber Dumoulin und Roglic sind meine absoluten Favoriten, da sie die stärkeren Zeitfahrer sind. Nibali ist beim Giro immer gefährlich und kann überraschen.
Welche Etappen und Plätze lohnen für einen Besuch des Giros?
Bologna als Startort. Die Stadt ist unglaublich schön, von Historie über Flair bis hin zum Essen bietet sie alles. Aus dieser Gegend kommen viele italienische Köstlichkeiten wie Tagliatelle al ragù, Tortellini, gebratene Gnocchi und Tigella. Hier können Fans sich am ersten Wochenende gleich zwei Etappen ansehen, das Zeitfahren hinauf zur und den Start der zweiten Etappe.
Dann das zweite Zeitfahren am 19. Mai von Riccione in den Zwergstaat San Marino: Dieses Rennen beginnt am Meer und endet in den Hügeln San Marinos, einer atemberaubenden und authentischen italienischen „Borgo“ – einer Festung.
Bei der Etappe am 24. Mai von Pinerolo von Ceresole Reale lohnt landschaftlich wie sportlich ein Besuch des Serú-Sees am Fuße des Monte Bianco. Dann natürlich ein Abstecher aufs „Dach“ des Giros, dem Gavia-Pass, auf der 16 Etappe am 28. Mai. Dies ist auch der Aufstieg, den ich am liebsten mag.
Und last but not least die Finaletappe in Verona. Das abschließende und vielleicht entscheidende Einzelzeitfahren findet hier statt. Das gibt den Zuschauern die Möglichkeit, die Fahrer und die Stadt näher kennenzulernen. Verona ist einzigartig, natürlich geprägt durch die Arena, an der der Giro endet.
Fotos: Stefan Rachow, Henning Angerer
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