Interview: Erik Zabel über den Frühjahrsklassiker Mailand-Sanremo
Erik Zabel war auf der Via Roma fünf Mal erfolgreich – vier Mal als Fahrer und einmal als sportlicher Leiter beim Sieg des Briten Mark Cavendish. Wohl kaum ein Ex-Profi hat eine innigere Beziehung zum ersten Monument des Jahres. Alpecin Cycling hat ihn zur Faszination des Rennens befragt.
Mailand-Sanremo ist Ihr Lieblingsrennen. Was ist an „La Classicissima“ so besonders?
Wo soll ich da anfangen? Es ist das erste Monument des Jahres und der eigentlich echte Start der Klassiker-Saison. Allein dadurch erhält es schon einmal einen besonderen Stellenwert. Ich empfand es immer als ein Privileg in meiner Karriere, dort starten zu dürfen. Hinzu kommt noch, dass es mit seiner Distanz von knapp 300 Kilometern das längste Eintagesrennen des Radsportkalenders ist und eine ganz besondere Streckencharakteristik besitzt: Start in der Mailänder Innenstadt, die flache Fahrt durch die Po-Ebene und über den Turchino-Pass bis ans Meer nach Genua. An der Blumenriviera entlang mit ein paar Abstechern ins Hinterland, ehe das Rennen zur Küste zurückkehrt und dann das Finale mit den drei Capos, der Cipressa und dem Poggio eingeläutet wird.
Und sportlich?
Dass verschiedene Fahrertypen dieses Rennen gewinnen können. Ein Finisseur wie Vincenzo Nibali im vergangenen Jahr, der angriffslustig fährt, oder aber ein tempoharter Sprinter wie John Degenkolb oder Alexander Kristoff. Auch Siege aus einer Ausreißergruppe gab es hier schon. Die Vielfalt an möglichen Sieganwärtern macht es unberechenbar und daher für mich sehr fair. Jeder starke Fahrer hat hier eine Chance zu gewinnen. Es gibt dazu noch einen Satz, der das Rennen sehr gut beschreibt: Es ist relativ einfach Mailand-Sanremo durchzufahren, aber sehr schwierig das Rennen zu gewinnen.
Sie haben das Rennen vier Mal selbst gewonnen. Wie hat es sich im Laufe der Jahre verändert?
Heute müssen die Fahrer schon viel früher aufmerksamer fahren. Zu meiner Zeit war es wichtig, mit den ersten 50 Mann in die Abfahrt vom Turchino-Pass zu gehen und danach aufmerksam zu bleiben in Richtung Genua. Aber von Kilometer 175 bis zu den ersten Anstiegen konnten wir noch etwas Kraft schöpfen und uns sogar mal ans Ende des Feldes zurückfallen lassen. Das funktioniert heute nicht mehr.
Warum?
Die vielen Kreisverkehre an der Küste entlang verlangen extreme Aufmerksamkeit. Da beginnen heute Positionskämpfe schon viel früher, denn jeder will da als einer der ersten durchfahren, um nicht ständig wieder antreten zu müssen. Heutzutage muss man ab dem Anstieg zum Turchino-Pass bis ins Ziel hellwach sein, wenn man vorne dabei sein will. Das kostet Energie.
Genauso wie die fünf „Capi“, die das Finale einläuten. Was ist deren Besonderheit?
Sie sind kurz und steil und sorgen nach der zuvor gefahrenen Distanz von gut 230 Kilometern für eine natürliche Reduktion des Pelotons. Gerade für junge, unerfahrene, noch nicht so tempofeste Fahrer, beziehungsweise Profis, können sie zum Verhängnis werden, wenn sie nicht zu hundert Prozent fit sind oder bis dahin viel gearbeitet haben. Wer sich über die ersten beiden – Capo Mele und Capo Cervo – noch darüber rettet, dem wird spätestes die Capo Berta, die längste von allen dreien – zum Verhängnis. Dann folgen Cipressa und der Poggio.
Am Poggio, dem letzten Anstieg, entscheidet sich aber erst das Rennen?
Ja, aller Wahrscheinlichkeit nach schon. Die Cipressa wird jetzt nicht mehr so aggressiv gefahren wie noch vor ein paar Jahren; wenngleich es immer noch wichtig ist, in einer vorderen Position drüberzufahren, da sich bis zum Anstieg des Poggio kaum viele Positionen gutmachen lassen.
Wann hat eine Attacke am Poggio Erfolg?
Letztendlich ist für den Ausgang des Rennens immer die Richtung des Windes und die damit verbundene Fahrweise am Poggio entscheidend. Herrscht dort Gegenwind, ist das gut für die Sprinter. Denn eine erfolgreiche Attacke ist deutlich schwerer bei Gegenwind. Aber der Anstieg dezimiert das Feld, wenn man es noch so nennen kann, deutlich. Hier wird man sehen, ob sich die Favoriten gegenseitig belauern oder ein Angreifer das Momentum nutzt oder ob die großen Teams Angriffe unterbinden.
Foto: Alpecin Cycling/Stefan Rachow