Analyse: Die wichtigsten Erkenntnisse nach der ersten Giro d’Italia-Woche 2021
10 Etappen sind bereits „gelaufen“ – 9 verschiedene Etappensieger aus 8 Teams zeugen von der Abwechslung und Vielfalt des Rennens. Ein wiedererstarkter Egan Bernal trägt das Rosa Trikot, ein wiedergenesener junger Belgier ist ihm „dicht auf den Fersen“. Einige GC-Favoriten fahren dagegen erstaunlich verhalten. Alpecin Cycling blickt auf eine ungewöhnliche angriffslustige und aktionsreichen ersten Teil der Italien-Rundfahrt zurück.
Gelungene Comebacks
Verletzungen und Erkrankungen gehören zum Radsport – leider. Umso schöner, wenn dann Fahrer zurückkommen und an ihr Potenzial von „einst“ wieder anknüpfen können. Ob Egan Bernal, Remco Evenepoel, Dylan Groenewegen oder Fernando Gaviria, sie alle machen durch ihr Auftreten in den Sprints oder am Berg ihre Probleme des vergangenen Jahres vergessen.
Für jeden Radsport-Fan ist es eine Freude zuzusehen. Nicht nur, wie sie Ihre zurückgewonnene Stärke demonstrieren, sondern auch mit welcher Lust und Verve sie wieder Rad fahren und siegen wollen. Auch wenn die US-amerikanische Webseite Velonews über Bernal schreibt „Don’t call it a comeback“, sondern es als Rückkehr zur Norm bezeichnet, so ist Bernal stärker zurückkommen. Im Gegensatz zur Tour de France 2019, wo er mehr oder weniger in die Position des Führenden hineingerutscht ist, zeigt er sich hier als klarer Leader. Und diese Stellung hat er auch seit Beginn des Rennens in der Mannschaft. Auch die Art und Weise – von vorne und auf dem großen Blatt im steilsten Stück fahrend – wie Bernal die 9. Etappe gewann, zeugt von unglaublichem Selbstvertrauen.
(K)eine Überraschung – Sprinter Tim Merlier
Experten wussten es schon vor dem Start. Der 28 Jahre alte Belgier aus dem Team Alpecin-Fenix zählt zu den weltbesten Sprintern. Auch wenn ihn die Medien selten bis überhaupt nicht in einem Atemzug mit Caleb Ewan & Co. nennen. Merlier und sein eigenes Team waren sich seiner Stärken bewusst. So wurde der Belgische Meister von 2019 in den Sprint-Finals lanciert und gut positioniert – in „letzter Instanz“ von seinem Lead-ot-Mann Alexander Krieger. Im ersten Sprint Royal auf Etappe zwei passte das perfekt – Merlier gewann. Bei seiner zweiten Chance musste er nach einem Kontakt mit Caleb Ewan aus dem Peda ausklicken und verlor so alle Chancen. Und beim Bergauf-Sprint in Termoli belegte er nach eigenen Aussagen schon etwas müde – immerhin Rang drei. Für das Grand Tour-Debüt eines Sprinters und seiner gesamten Mannschaft ein riesengroßer Erfolg. Wenn man zudem bedenkt, dass es der bislang einzige Sieg einer ProConti-Mannschaft bei diesem Giro ist.
Deceuninck – Quick Step: Volles Vertrauen in Remco Evenepoel
Auch wenn das belgische Team, vor dem Start der Italien-Rundfahrt die Erwartungen eher gedämpft hat, so wird im Rennen durchaus klar, dass der junge Belgier der Team-Leader sein soll. Nicht nur, dass sich Joao Almeida, 2020 immerhin Vierter im Gesamtklassement des Giro und 15 Tage Träger des Rosa Trikots, vor Evenepoels Rad spannt. Der junge Belgier selbst lässt nichts unversucht, um Rosa anzugreifen, wie er zuletzt beim Zwischensprint auf der 10. Etappe zeigte. Spannend wird zu sehen sein, wie sich der 21-Jährige mit den langen Anstiegen an den Hochgebirgspässen und den Anforderungen einer Rundfahrt zurechtkommt.
Wachablösung bei Trek-Segafredo? Giulio Ciccone anstelle von Vincenzo Nibali
Eigentlich kam Giulio Ciccone nicht zum Giro, um aufs Gesamtklassement zu fahren. Er sollte auf einzelnen Etappen seine Chancen suchen und wenn immer möglich den eigentlichen Kapitän Vincenzo Nibali unterstützen. Nach 10 Etappen sieht es allerdings anders aus. Nibali fährt verhalten mit – liegt von allen ernstzunehmenden GC-Favoriten am weitesten zurück und macht selbst keinen Hehl daraus, dass Ciccone an seine Stelle rutschen könnte. Kein Wunder, liegt Giulio Ciccone nicht nur auf Rang vier in der Gesamtwertung – trotz eines bescheidenen Zeitfahrens mit 56 Sekunden Rückstand auf den Sieger. Doch Giulio Ciccone attackierte auf Etappe 5 in der Abfahrt vom zweitletzten Berg des Tages und kam am Ende auf Rang 5 bei der Bergankunft nur zwei Sekunden hinter dem Führenden Egan Bernal ins Ziel.
Bei der Bergankunft auf Schotter nach Roccca die Cambio war er der Einzige, der Bernal kurzzeitig Paroli bieten konnte. Man wird gespannt sein, wie Ciccone an den langen Anstiegen mithält. Das Team selbst gibt sich in Bezug auf eine mögliche Änderung der Kapitänsrolle verhalten – noch…
Ineos-Grenadier: Angriffslustig und immer „Herren der Lage“
Besser als mit einem Sieg kann man in eine Grand Tour nicht starten. Und den holte Kraftpaket Filippo Ganna für die britische Equipe souverän. Der Italiener pulverisierte die Zeiten der Konkurrenz und setzte gleich ein Zeichen. Seine Stärke demonstrierte er, als er Bernal im Stil eines Lead-out-Mann zur Ziellinie chauffierte sowie in den Bergen, als er eine Windkante initiierte und Ines Grenadier den Rest des Feldes praktisch abstellte – wenn auch nur für kurze Zeit.
Beim jetzigen Team Ineos Grenadier erinnert nichts mehr an das Team Sky, das die Gegner regelrecht durch immer schnelles Fahren am Berg zermürbt hat. Sie fahren taktisch gewiefter, attraktiver, ermöglichen auch mal einem anderen die Chance auf den Sieg – so wie Dani Martinez, der in der Gesamtwertung nur 1:12 Minute hinter Bernal liegt.
Es scheint so, als können sie immer die richtige Antwort geben und profitieren von taktischer Cleverness, wie zuletzt bei der Bergankunft auf Schotter. Hier wurde Gianni Moscon den ganzen Tag über „geschont“, damit er Bernal den Weg auf den letzten 2000 Metern zum Sieg ebnen konnte.
In Lauerstellung – Dan Martin, Hugh Carthy und Simon Yates
Während Remco Evenepoel und Alexandr Vlasov sowie Mikel Landa – bis zu seinem Ausscheiden – offensiv fuhren und Akzente setzten, ist von Dan Martin, Hugh Carthy und Simon Yates wenig zu sehen. Gerade für Letzteren, der den Gewinn des Rosa Trikot klar als Ziel formuliert hat, durchaus ungewohnt. Aber dieser defensive Fahrstil muss diesem Trio nicht zum Nachteil gereichen. Sie liegen alle innerhalb einer Minute zu Egan Bernal und konnten auf den Etappen bislang Körner sparen. Die Körner, die es braucht, um in der zweiten Hälfte des Giro, wenn es auf den Etappen mehrmals über eine Länge von 15 bis 20 Kilometer berghoch zu den Highlights dieses Giro geht, vorne dabei zu sein. Keiner dieser Drei ist unerfahren, was das Energiemanagement einer Grand Tour betrifft. Spätestens bei der Bergankunft der 14. Etappe hoch zum Monte Zoncolan wird sich dann zeigen, ob sie nur nicht wollten oder einfach nicht konnten.
Fotos: RCS Sport/La Presse