Giro d’Italia-Analyse 2021: Die wichtigsten Erkenntnisse der Schlusswoche
Der Giro d’Italia bot über die gesamten drei Wochen spannenden, dramatischen und schönen Radsport. Langeweile kam bei der großen Landesrundfahrt des Jahres nie auf – kurzzeitig dachte man sogar daran, dass das Rosa Trikot wechseln könnte, Was für Erkenntnisse die finalen Etappen des Giro brachten, zeigt die Analyse von Alpecin Cycling.
Joao Almeida fährt eindrucksvolle dritte Woche
Wäre für Joao Almeida (viel) mehr drin gewesen als der sechste Platz in der Gesamtwertung? Diese Frage stellen sich am Ende des Giro d‘Italia einige, er selbst hoffentlich nicht. Warum nicht? Hätte, hätte Fahrradkette. Doch zurück zu den Fakten. Almeida war bei dieser Grand Tour als Edelhelfer für Remco Evenepoel eingeplant. Das ist Teamorder und darüber wird nicht diskutiert. Almeida tat das einige Male. Das ist kein guter Stil.
Ab der Königsetappe am Pfingstmontag bekam der junge Portugiese, der im vergangenen Jahr Vierter der Italien-Rundfahrt wurde, dann freie Fahrt. Doch bis dahin hatte sich schon einiges an Rückstand aufsummiert. Allerdings nicht nur deswegen, weil er Remco Evenepoel helfen musste, wie beispielsweise auf der Strade Bianche-Etappe nach Montalcino. Er verlor auf Etappe vier viel Zeit. Hier war sein Rückstand gegenüber Egan Bernal mehr als vier Minuten, Evenepoel verlor gerade mal ein paar Sekunden. Zugegeben das war Almeidas „jours sans“ bei diesem Giro. Aber was gerne in der Nachbetrachtung vergessen wird: auf der „verkürzten“ Königsetappe war Almeida in der Ausreißergruppe – und beendete diese mit 1:21 Minuten Rückstand auf Bernal. Hier darf auch trefflich spekuliert werden, dass Ineos Grenadier Almeida nicht einfach hätte losfahren lassen, wenn er besser im Gesamtklassement platziert gewesen wäre. Und schon relativiert sich die Situation. Hinzu kommt noch, dass er auch in den ersten 14 Tagen Körner sparen und danach unbefreit sowie ohne Druck fahren konnte – er hatte nichts zu verlieren. Dass am Ende Millisekunden über Platz fünf und sechs entschieden, ist tragisch aber kein Beinbruch. In der nächsten Saison muss er in einem anderen Team beweisen, ob er Leader sein kann…
Daniel Felipe Martinez – mehr als nur ein Edelhelfer
Sein Stern ging nicht erst bei diesem Giro auf – und auch nicht im vergangenen Jahr als der Kolumbianer damals in Diensten des EF Education Team das Criterium du Dauphine gewann. Experten sahen seine Klasse bereits 2018 als er die italienischen Herbstklassiker sehr eindrucksvoll bestritt, allerdings ohne nennenswerte Resultate. Mit seinem Wechsel von EF zu Ineos Grenadier scheint der Kolumbianer nochmal einen Sprung gemacht zu haben. Er fuhr nicht nur stark, was sein fünfter Platz im Gesamtklassement beweist, sondern wusste auch immer was da zu tun ist. Er parierte Angriffe, hielt das Tempo bei der Nahführarbeit hoch und motivierte seinen Leader im besten Udo Bölts-Stil. Für einen erst 25-Jährigen eine bemerkenswerte Leistung. Spannend wird sein, wohin ihn sein weiterer Weg führt und ob „Dani“ Martinez nicht auch in naher Zukunft Leader bei einer Grand Tour sein darf.
Rolf Aldag – die deutsche Radsport-Stimme im TV
Es war über knapp drei Wochen ein Genuss, Rolf Aldag als Eurosport-TV-Experte zuhören zu können. Denn er wusste, was im Peloton wirklich abgeht, was hinter den Kulissen geschieht, was technisch gerade en vogue ist und wer gerade in punkto Taktik warum wie fährt. Gepaart mit originellen Anekdoten aus früheren Jahren als Team-Manager von Highroad, HTC etc. sorgte er selbst bei den wenigen langweiligen Etappen für beste Unterhaltung. Bitte mehr davon!
Tobias Foss auf dem Weg zum nächsten Grand Tour-Leader für Jumbo-Visma?
Sein dritter Platz beim Auftaktzeitfahren in Turin war keine so große Überraschung. Gilt der Norweger doch als guter Zeitfahrer. Was er allerdings im Verlaufe des Giro zeigte, überraschte dann doch viele. Er nahm den Platz ein, denn die Sportliche Leitung eigentlich für George Bennett vorgesehen hatte. Nämlich GC-Contender der Jumbo-Visma -Equipe. Doch der Neuseeländer Bennett blieb schon auf den ersten bergigen Etappen hinter den in ihn gesetzten Erwartungen zurück. Foss dagegen blieb im Rennen.
Anders als noch beim Giro d’Italia 2020 als er wie auch sein Team wegen eines positiven Corona-Falles das Rennen nach der neunten Etappe verlassen musste. Damals als Helfer von Steven Kruijswijk gab Foss sein Grand Tour-Debüt und überzeugte ebenfalls – wenn auch begrenzt – zeitlich. Er wurde Fünfter im Auftaktzeitfahren und zeigte sich auch stark auf den Bergetappen – dem fünften und neunten Tagesabschnitt. Bei diesem Giro zeigte der Gewinner der Tour de l’Avenir 2019, dass er auch über drei Wochen stark fahren kann. Ob es irgendwann für ganz vorne reichen wird, muss man sehen. Dass Reservoir von jungen guten Fahrern aus dem Jumbo Visma schöpfen kann, ist jedoch groß.
Giro 2021 – kein gutes Pflaster für Sprinter
Nur vier Mal gab es bei dieser Italien-Rundfahrt einen Sprint Royal – zwei Mal gewann Caleb Ewan, je einmal siegten Tim Merlier sowie Giacomo Nizzolo. Es wäre mehr drin gewesen, aber die Sprinter und ihre Teams wollten oder konnten nicht. Einmal wurden sie von Bora-hansgrohe auf die Hörner genommen – die anderen Male waren sie einfach nicht oder nicht mehr präsent. Früh ausgestiegen sind einige der endschnellen Männer – über die wahren Gründe lässt sich trefflich spekulieren. Ein Etappenerfolg bei der Tour de France überstrahlt den Tagessieg beim Giro – noch. Die Klassementfahrer und die Streckenplaner haben gezeigt, was für ein tolles Rennen die Italien-Rundfahrt sein kann. Einzig was fehlt, sind die mediale Präsenz und ein Umdenken in den Köpfen der Profis.
Instagram-Live Talk mit Bernd Landwehr, Chefredakteur des Cyclingmagazine, zur Schlusswoche des Giro d’Italia
Fotos: RCS Sport/La Presse, Eurosport