Geraint Thomas über den Tour de France-Berg Col du Galbier
„Da oben gibt es nichts außer Schnee und Schmerz und Bedauern.“ So charakterisiert IneosGrenadiers-Profi Geraint Thomas den Col du Galibier in seinem Buch „Radsportberge und wie ich sie sah“. 2007 erklomm er als Barloworld-Profi den Anstieg das erste Mal. Viele weitere Auffahrten sollten folgen. 2024 wird er auf der 4. Etappe der Tour de France dem mythischen Alpenpass erneut seine Aufwartung machen.
Alpecin Cycling veröffentlicht Teile des lesenswerten Kapitels über den Anstieg – mit freundlicher Genehmigung des Covadonga Verlages, in dem das Buch auf Deutsch erschienen ist.
Auszug aus dem Buch „Radsportberge und wie ich sie sah“ von Geraint Thomas
Von Süden aus (vom Col du Lautaret zum Gipfel, 18. Etappe Tour de France 2019)
Tim Kerrison: »Es ist ein Anstieg in großer Höhe – der letzte Abschnitt beginnt auf 2.000 m, am Col de Lautaret, nach der langen, schnellen Auffahrt von Briançon, und führt hinauf bis auf 2.600 m. Die Auswirkungen der Höhe und der vorhergehenden langen Anstiege lassen sich an der durchschnittlichen Leistung ablesen – ›nur‹ 360 Watt. Trotzdem erreichte G eine maximale Leistung von 955 Watt bei einer Attacke gegen Ende des Anstiegs.«
Dauer: 23 Minuten 28 Sekunden
Distanz: 8,53 km
Ø-Geschwindigkeit: 21,7 km/h
Ø-Kadenz: 82 U/min
Ø-Herzfrequenz: 154 bpm
Du sparst auf eine Reise in die Alpen, fährst die großen Anstiege, verlebst mit deinen Kumpels eine geile Woche. Du packst dein Rad wieder ins Auto, fährst heim und freust dich darauf, am Montag von deinen Freunden und Kollegen mit einem Chor der Bewunderung im Büro begrüßt zu werden.
Den bekommst du zu hören, wenn du ihnen erzählst, du seist Alpe d’Huez hochgefahren, denn sie haben alle von Alpe d’Huez gehört. Und dann erzählst du ihnen, du seist auch den Galibier hochgefahren, und Doris aus der Buchhaltung zuckt nur die Achseln, ein paar Leute blicken auf ihre Handys und alles zerstreut sich allmählich und am liebsten möchtest du sie anschreien: »Aber es ist der Galibier! Er ist furchterregend!«
Dies ist das Schicksal des Galibier. Er ist ein Monster: 2.642 Meter hoch an der Passhöhe, 35 Kilometer lang auf der Nordseite, wenn man den Col du Télégraphe mitrechnet, wie wir es stets tun. Da oben gibt es nichts außer Schnee und Schmerz und Bedauern.
Keine Städte, keine Dörfer in der Nähe des Gipfels, nur ein Tunnel, durch den du auf dem Rad ohnehin nicht fahren darfst.
Die Südseite des Col du Galibier über Briancon
Kommst du von Süden, über Briançon, ist es vielleicht noch schlimmer – nicht ganz so lang, aber Autos rasen an dir vorbei, und die Straße verliert sich direkt vor dir einfach in der Höhe. Nichts daran ist angenehm oder kuschelig. Es ist die Art von Ort, an dem du fürchtest, dass schlimme Dinge geschehen. Falls irgendwo Drachen hausen, dann auf dem Galibier. Und wenn du sie siehst, ist es zu spät, denn da oben hast du keinen Netzempfang und du bist fernab von allem und hättest keine Chance, dich irgendwo hinzuflüchten.
Zuckst du immer noch die Achseln, Doris?
Erinnerungen an die Tour de France 2011
Glücklichere Erinnerungen: 2011 trug Rigoberto Urán für das Team Sky das Weiße Trikot des besten Nachwuchsfahrers. Als er auf der 18. Etappe, einer Bergankunft am Galibier, Probleme hatte, war ich in der Spitzengruppe und versuchte ihm zu helfen, während die Klassementfahrer sich gegenseitig in die Mangel nahmen.
Cadel Evans hatte fast keine Helfer mehr bei sich, Andy Schleck griff mehrere Kilometer vor dem Gipfel an. Auf dem langen Stück vor der Rechtskurve gab es Gegenwind und ich konnte im Windschatten der Gruppe mitrollen. Als sie auseinanderfiel und Rigo einbrach, blieb ich bis ins Ziel bei ihm. Und zum ersten Mal fragte ich mich, was wohl hätte sein können, wenn ich an diesem Tag für mich gefahren wäre? Wenn ich meine Energie für mich genutzt hätte statt für einen Teamkollegen? Wie weit hätte ich kommen können?
Am nächsten Tag ging es wieder über den Galibier, diesmal über die Télégraphe-Seite auf dem Weg zum Ziel in Alpe d’Huez. Erneut eine Bergetappe, auf der ich mich voller Hoffnung für Rigo aufopferte und ganz aus dem Häuschen war, den Kampf um das Gelbe Trikot aus unmittelbarer Nähe zu erleben. Und, wie sich herausstellte, der Grund, warum ich den Galibier auf ewig mit dem französischen Teufelskerl Thomas Voeckler assoziieren werde.
Ganz Frankreich fieberte in diesen Tagen mit dem tapferen Elsässer, der letztlich auf einen heroischen vierten Platz im Gesamtklassement fuhr. Eine Weile war ich in der gleichen Gruppe wie er im Anstieg zum Galibier, den er in seiner unnachahmlichen Manier hinaufstiefelte: Grimassen schneidend, die Zunge rausstreckend, sich auf dem Rad dramatisch hin und her werfend. Es war genau die Sorte von exaltiertem Gebaren, das ihn, wäre er Brite, in Pubs und auf Spielplätzen zur Zielscheibe von Hohn und Spott gemacht hätte. Da er aber nun mal Franzose war, lagen die Leute ihm zu Füßen. Und so feierten sie Thomas Voeckler am Galibier wie einen siegreichen Helden, und ich war froh darüber, denn es lenkte mich von den Schrecken ab, die ich an seiner Seite durchlebte.
Du erlebst nicht oft eine Bergankunft am Galibier. Aber du fürchtest ihn immer. Er ist so hoch, so trostlos. Auf Teneriffa kann man am Teide den Anstieg über Vilaflor fahren und fast vergessen, dass man sich in 2.100 Metern Höhe befindet, denn es gibt Bäume und liebliche Aussichten und eine warme Brise. Auf dem Galibier gibt es kein Entrinnen. Nur Felsen, schmutzigen Schnee, fiepende Murmeltiere und dich.
Und dieses Mal war es von Anfang an kein Spaß. Ich war nervös, beklommen angesichts dessen, was bevorstand. Eine Minute vor uns lag eine Ausreißergruppe, Chris Anker Sørensen, ein Teamkollege von Alberto Contador, attackierte frühzeitig und ließ bei uns die Alarmglocken schrillen. Wenn ein Helfer geht, wird der Kapitän vielleicht folgen. Und das tat er auch, nach nur wenigen Kilometern des Anstiegs. Ein plötzlicher Ruf über den Teamfunk: »Contador attackiert!« Ein Schachzug in der Hoffnung, dem einen oder anderen Rivalen gleich mal den Stecker zu ziehen, und im Wissen, was er mit unseren Köpfen anstellte.
Wir sahen uns gegenseitig an, alle mit der gleichen Frage auf den Lippen: Warum? Warum hier? Wir sind erst zwei Kilometer den Télégraphe hinauf. Wir können den Galibier doch noch nicht mal sehen. Also tu uns bitte allen einen Gefallen. Warte noch zehn Kilometer. Dann kannst du immer noch deinen Vorsprung herausfahren.
Aber du wirst uns nicht alle bei dem Versuch vernichten. Ich habe gesagt, die Südseite des Galibier sei die schlimmere. Ich könnte auch sagen, ich würde lieber die Rechte von Tyson Fury verpasst bekommen als seine Linke. Keine der beiden Optionen ist gut. Keine macht Spaß.
Doppelpack: Col du Galbier über den Télégraphe
Den Galibier über die Télégraphe-Seite hinaufzufahren, bedeutet, nach einem schweren Anstieg noch einen weiteren schweren Anstieg serviert zu bekommen. Du fährst rauf, kurz runter und dann wieder rauf. Das ist nicht fair. Die Briançon-Seite hingegen zieht sich einfach ewig hin. Bei der Tour 2019 hatten Egan Bernal und ich nur wenige Helfer an unserer Seite. Michał Kwiatkowski war weg, Gianni Moscon war weg, Luke Rowe war schon lange weg. Dylan van Baarle saß vor uns in einer Fluchtgruppe. Und so musste der bedauernswerte Jonathan Castroviejo eine gewaltig lange Führung an der Spitze unserer Gruppe fahren, den ganzen Weg vom Beginn des Anstiegs bis zur Rechtskurve acht Kilometer vor der Passhöhe, und die ganze Zeit konnte er die Gruppe mit Dylan vor uns sehen.
Die Situation hatte leider weniger von Hase und Windhund als vielmehr von einem Teller Essen vor einem verhungernden Mann. Einem zunehmend gequälten, gepeinigten, konfusen Mann.
Castro, über den Teamfunk keuchend: »Dylan, hast du die Beine hochgenommen?«
Dylan: »Klar, ich mache nichts.«
Castro: »Warum bist du dann so weit weg?«
Dylan: »Ich trete nur locker.«
Castro: »Fahr langsamer! Bitte!«
Tour de France 2007: Premiere für Geraint Thomas am Galibier
Wenn ich an den Galibier denke, denke auch an die Zeit zurück, als alles begann. Meine allererste Tour de France, 2007, meine erste Erfahrung überhaupt im Hochgebirge. Es kam mir gar nicht so vor, als wäre ich bei der Tour dabei. Mein Rennen trug ich eher mit mir selbst aus, mit dem Gruppetto, mit der Karenzzeit.
Würde ich einen weiteren Tag überleben? Würde ich die nächste Stunde überleben? Der Galibier stand auf der neunten Etappe auf dem Programm, nach dem ersten Ruhetag der Tour. Die achte Etappe war für mich brutal gewesen, ich musste schon nach 40 Kilometern an einem Anstieg der zweiten Kategorie abreißen lassen, schaffte es erst am Schlussanstieg hinauf nach Tignes zurück ins Gruppetto, nachdem ich 110 Kilometer lang allein hinterhergefahren war. Dabei hatte die achte Etappe nicht mal einen Anstieg der Hors Catégorie. Die neunte hingegen hatte deren zwei, erst den Iseran und dann die Kombination aus Télégraphe und Galibier.
Der Horror begann schon in der Teambesprechung. Unser kolumbianischer Kletterer Mauricio Soler wurde angewiesen, von an Anfang Dampf zu machen. Ich dachte nur: »Was? Bitte, nein, nur ein paar lockere Kilometer, bitte…« Mehr als ein »Thomas, bocca lupo« bekam ich selbst nicht zu hören. Hals- und Beinbruch. Na, danke.
Aber es funktionierte. Für mich war es wie ein olympisches Finale in der Mannschaftsverfolgung, nur halt 90-mal so lang. Zwei zusätzliche Tassen Kaffee im Bus, vor allen anderen am Start. Würde ich heute nach Hause fahren müssen, hätte ich wenigstens gekämpft. Ich entdeckte das Grüne Trikot von Tom Boonen. Ich wusste, er würde an den Anstiegen mit seinen Kräften haushalten, ich wusste, sein Team würde ihm Helfer zur Seite stellen. Das war dann also meine Devise an diesem Tag: bei ihm zu bleiben, dem großen Tom Boonen, überleben, irgendwie durchkommen.
Auf halbem Weg den Galibier hinauf entdeckte ich sogar meinen alten Kumpel Mike Davies in seinem lindgrünen Vereinstrikot von Cardiff Jif – den gleichen Mann, mit dem ich sechs Jahre zuvor zu den Five Valleys in Südwales geradelt war. Der einzige Wermutstropfen war das Bidon mit Wasser, das er mir vom Straßenrand aus reichte. Ein Bidon, das er in der sengenden Hitze hinaufgeschleppt hatte, so dass das Wasser inzwischen Badewannentemperatur hatte. Ideal in Südwales, vielleicht nicht ganz so ideal am Galibier.
Angesichts all dessen wünschte ich, es würde am Gipfel mehr Aufhebens darum gemacht werden, wenn du es schaffst. Wir Profis schließen einfach unsere Trikots, nehmen Verpflegung entgegen und richten uns auf die Abfahrt ein. Vereinsfahrer und Radtouristen können ein Beweisfoto machen und neben dem Schild mit der Aufschrift »Col du Galibier, altitude 2642 m« posieren, und das war’s. Nichts sonst, was du Uneingeweihten zeigen könntest. Keine Postkarten, die du ins Büro schicken könntest. Keine Geschirrtücher, die du Doris mitbringen könntest. Nur du und der alte Schnee und die einsamen, kahlen Hänge.
Steckbrief des Buches „Radsportberge und wie ich sie sah“
Titel: Radsportberge und wie ich sie sah
Autor: Geraint Thomas
Verlag: Covadonga
Erscheinungsjahr: 2021
ISBN 978-3-95726-060-4
Umfang: 256 Seiten
Preis: 14,80 Euro
Zu bestellen direkt über den Shop des Covadonga-Verlages oder über den Buchhändler vor Ort.
Fotos: mrpinko/Stefan Rachow