Giro d’Italia-Berg: Geraint Thomas über den Mortirolo
Geraint Thomas hat dem Passo dello Mortirolo in seinem Buch „Radsportberge und wie ich sie sah“ ein Kapitel gewidmet. Und lässt kein gutes Haar an diesem Anstieg, den er zum Zeitpunkt des Schreibens nur zweimal gefahren war: 2008 im Trikot von Barloworld „als schwergewichtiger Jüngling“ wie er selbst schreibt. Und 2012 als Helfer im Team Sky. 2024 wird er auf der 15. Etappe des Giro d’Italia wohl anders als bei den anderen Malen zuvor wohl nicht im Gruppetto den Anstieg hochklettern.
Alpecin Cycling veröffentlicht Teile des lesenswerten Kapitels über den Anstieg – mit freundlicher Genehmigung des Covadonga Verlages, in dem das Buch auf Deutsch erschienen ist.
Auszug aus dem Buch „Radsportberge und wie ich sie sah“ von Geraint Thomas
„Oh nein. Nicht der Mortirolo.
Es gibt ein Trio von echten Fieslingen in diesem Buch. Die Ötztaler Gletscherstraße in Sölden, der große schweizerische, sorry: österreichische Sausack. Der Col du Portet, der wie zwei schreckliche Anstiege in einem ist. Und der Mortirolo, ein Pass, der keinen Sinn ergibt. Das ist deine Schurkengalerie, dein Podium der Schmerzen, ein Triptychon, das ein Fluch für jeden ist, der es wagt, es mit ihm aufzunehmen.
Ich finde, am Mortirolo ist der mittlere Teil der schlimmste. Das erste Drittel ist schrecklich, aber du bist noch mental frisch und fühlst dich bereit, ihn in Angriff zu nehmen. Im Mittelteil kriegst du es wiederholt von Rampen von 14, 16 und 18 % besorgt. Es ist absurd. Andere Anstiege streuen vielleicht eine davon ein, bevor sie dich fast beschämt wieder in Ruhe lassen. Dieser hier aber rammt dir einfach weiter die Ellenbogen ins Gesicht. Du näherst dich der ersten der unzähligen Kehren – Kehren, die nicht mal zu den offiziellen 39 Haarnadelkurven des Mortirolo dazuzählen – und du glaubst, eine kurze Verschnaufpause zu bekommen, weil ein solcher Wahnsinn nicht weitergehen kann, und dann kommt durch die Bäume der nächste Abschnitt in Sicht und du denkst: Oh. Geht ja doch weiter. Und es wird schlimmer. Oh.
Es gibt Stellen am Mortirolo, an denen du dich fragst, ob er je ein Ende nimmt. Du kommst so langsam voran, dass dein Garmin sich automatisch abschaltet, weil er davon ausgeht, dass du angehalten hast. Ach, streichen wir das mal lieber aus dem offiziellen Protokoll– das zählt nicht mehr als Fortbewegung. Und dabei hast du noch sechs der 12,5 Kilometer Anstieg vor dir, die durchschnittliche Steigung wird auf keinem davon unter 10,5 % fallen, und es gibt für dich nichts zu sehen außer diesen beklemmenden Bäumen und diesem dünnen, einspurigen Streifen Asphalt, der im Dunst glitzert und sich vor dir aufrichtet wie eine Speikobra.
Müßige Gedanken wabern dir im Kopf herum. Wie war es möglich, diese Straße zu bauen? Warum fiel der noch feuchte Asphalt nicht einfach vom Berg runter? Wie konnten die Arbeiter aufrecht stehen?
Der Mortirolo zeigt dir die dunklen Winkel deiner Seele
Je schlimmer der Schmerz wird, desto trostloser wird das, was du wahrnimmst. Die Bäume sind dunkelgrün. Die Straße ist dunkelgrau. Die Wolken hängen tief und schwer. Es ist klaustrophobischund düster und bedrückend. An der Passhöhe erwartet dich nichts – kein Dorf, keine Kathedrale, kein Skiresort. Es ist ein sinnloser Anstieg, eine Straße nach Nirgendwo, eine Auffahrt in die Hölle. Golf macht sich ebenso wie der Radsport die natürliche Umgebung zunutze, um seine Reize zu steigern: ein zwischen natürlichen Erhebungen angelegtes Grün, ein auf einem Felsvorsprung gelegener Abschlag, ein Fairway, das sich um einen Bach windet.
Anstiege im Radsport machen es häufig genauso: Sie führen dich durch ein spektakuäres Tal, präsentieren dir eine Aussicht, die dir den Atem verschlagen würde, wenn du welchen hättest, führen dich in Höhen hinauf, die du ansonsten nie erreichen würdest.
Der Mortirolo? Er zeigt dir nichts als die dunklen Winkel deiner Seele. Du kletterst hinauf und hast nach der Abfahrt das Gefühl, auf derselben Straße durchs Tal wieder herauszukommen. Es gibt keine Aussichten in diesem Wald, nichts Schönes. Du könntest genauso gut durch einen Tunnel fahren. Es gibt nichts als kreischende Fans und wüste Schmierereien auf der Straße.
Als Golfer gehst auf einem Topkurs nie über ein Fairway und fragst dich: Warum ist hier ein Loch? Am Mortirolo bist du am Treten und am Treten und die Frage verkürzt sich zu einem knappen: Warum?
Wäre der Mortirolo ein Mensch, wäre er kaum als solcher zu bezeichnen. Er wäre ein von Wölfen aufgezogenes Kind. Er wäre ein Mann, der sogar jetzt kaum mit dir kommunizieren kann, ohne sich mit dir anlegen zu wollen. Man möchte es sich nicht mit ihm verscherzen. Er hat keine Freunde. Er macht sogar der örtlichen Mafia Angst. Selbst Bösewichte haben häufig einen liebenswerten Zug an sich – die Liebe zu ihrer Großmutter, ein Herz für betagte Windhunde. Der Mortirolo hat nicht den Anflug eines liebenswerten Zugs. Er lässt den Stelvio wie einen lauschigen Nachmittag in einem sonnigen Biergarten aussehen.
Zwei Mal ist Geraint Thomas den Berg bislang beim Giro gefahren
Okay, vielleicht bin ich auch nur verbittert. Ich bin ihn zweimal hinaufgefahren, beide Male beim Giro d’Italia, einmal 2008 als schwergewichtiger Jüngling in Diensten von Barloworld und noch einmal 2012 mit Sky. Beide Male war ich im Gruppetto, der letzten Gruppe der Abgehängten. Vielleicht würde es anders laufen, wenn ich heute zurückkehren würde, als jemand, der gelernt hat, wie man klettert und wie man auf Pommes verzichtet. Aber ich bin mir da nicht so sicher. Damals hatte ich Bammel vor jedem Anstieg in der WorldTour. Das ist vorbei, aber das Bedrohliche am Mortirolo bleibt bestehen. Für jeden.
Die Straße rollt so dermaßen zäh Und für den Fall, dass die Kombination aus extremer Steigung und rauem Belag dich nicht genug bremst, hat man außerdem eine Reihe von Rinnen verlegt, die quer über die Straße verlaufen. Du bist nicht schnell genug, um über sie hinwegzuhopsen; bei dem Tempo müsstest du dafür 30 Sekunden in der Luft stehen. Du rumpelst in sie rein und verbrauchst ein weiteres Körnchen wertvoller Energie, um wieder rauszurumpeln.
Es kommt heutzutage nur selten vor, dass du als Radprofi vor einer Etappe eine andere Übersetzung montieren lässt. Aber der Mortirolo ist auch selten schwierig. Und so wird ein umsichtiger Mechaniker deiner Rennmaschine eine richtige Mountainbikeübersetzung verpassen – ein 36er als kleines Kettenblatt vorne und vielleicht ein 30er- oder 32er-Ritzel als Rettungsring hinten. Es geht nicht darum, die Etappe zu gewinnen. Es geht darum, dich nach oben zu bringen. Es soll helfen, deine Nerven zu beruhigen. Du siehst es an den Motorradkameras, die vor dir fahren: Sie müssen Schlangenlinien fahren, damit sie genug Tempo aufrechterhalten, um nicht umzukippen.
Aus dem gleichen Grund wird unter den Fahrern sehr wenig geredet, wenn es hier raufgeht. Man möchte nicht reden. Wenn du das Gefühl hast, dass es ginge, behältst du es für dich. Fängst du ein Gespräch mit jemandem an, der neben dir leidet, kann er das als Provokation auffassen. Ah, wir streuen Salz in die Wunden, ja? Wenn du so viel Atem hast, warum bist du dann nicht weiter oben am Berg?
…
Falls du überschüssige Energie hast, ist es besser, dir selbst ein Lied vorzusingen. Bilde dir aber nicht ein, dass du dir aussuchen könntest, welches es sein wird. Dein Gehirn wird sich an den letzten Musiktitel klammern, den du gehört hast, als ihr am Start losgefahren seid, irgendein grauenhaftes Stück Europop aus den Lautsprechern oder etwas, das scheppernd aus Wout Poels’ Smartphone dröhnte. Du wirst nicht mal wissen, worum es in dem Song geht – nur drei Worte aus dem Refrain, die du dir ausgedacht hast, damit sie zum italienischen oder niederländischen Original passen.
In Endlosschleife in deinem Kopf, im Rhythmus deines Pedaltritts. Mortirolo, Mortirolo, Morti-Morti-Morti-rolo. Ich habe diesen Anstieg nie im Vorfeld ausgekundschaftet. Es hat eigentlich keinen Zweck. Du weißt, was auf dich zukommt, und dass du dich einmal freiwillig vermöbeln lässt, macht es nicht weniger schmerzhaft, wenn du beim nächsten Mal wieder durchgelassen wirst. Im Rennen hast du wenigstens das Adrenalin, das dir ein klein wenig hilft. Wenn es ausbleibt, hoffst du, ein großzügiges Team zu haben. Als ich 2012 Mark Cavendish hinaufhalf und auch Ian Stannard sich mit uns hochquälte, rief uns Dave Brailsford aus dem zweiten Teamfahrzeug von Sky heraus zu: ‚Haltet durch, Jungs, ihr könnt euch auf etwas freuen: Wir haben einen Hubschrauber aufgetan, der uns direkt vom Ziel ins Hotel in Mailand bringt.‘ Es ist schon erstaunlich, was ein bisschen überraschendes Gerede über einen Hubschrauber mit der gebrochenen Moral eines Mannes anstellen kann.
Es gibt eine ganz bestimmte Technik für Steigungen wie den Mortirolo. Sie ziehen sich viel zu lang hin, um die ganze Zeit im Stehen zu fahren und sie mit reiner Kraft zu bewältigen, auch wenn du manchmal aus dem Sattel musst, selbst jemand wie ich, der von der Bahn kommt und hohe Wattzahlen im Sitzen treten kann. Es geht eher ums Drehmoment: langsamer treten mit mehr Kraft.
Jeder Fahrer hat seine eigene Tritttechnik, aber wir müssen uns alle schinden. Du kommst nie in einen richtigen Rhythmus und so ist die Erleichterung enorm, wenn die Straße mal flacher wird, wenn auch nur für 15 Meter. Du kommst zwar nicht aus deinem kleinsten Gang raus, aber ein paar Sekunden lang kannst du die Kadenz von 50 auf 70 U/min steigern und es ist wie ein belebender kalter Waschlappen um den Nacken. Dann wird es wieder steiler und auch mental wird es wieder schwerer.
„Langsamer am Mortirolo zu fahren, verlängert das Leiden„
Wenn möglich, möchtest du dein eigenes Tempo fahren. Oft passt du auf einen Teamkollegen auf, machst einen Job für das Team statt für dich selbst. Das ist logisch und gängige Praxis im Profi-Peloton, aber es macht die Sache nicht leichter. Etwas langsamer zu fahren, als du eigentlich willst, ist am Mortirolo sogar schlimmer, als schneller fahren zu müssen. Es ist weniger effizient.
Es verlängert das Leiden. An einem schnelleren Anstieg kannst du deine Wattzahlen drosseln und die Strapaze fühlt sich gleich ein wenig angenehmer an. Hier nicht. Du bist gefangen in ohnmächtiger Wut, in deiner eigenen traurigen Welt, in deinen eigenen trüben Gedanken.
…
Beim Giro 2012 ging es für mich nicht so sehr ums Überleben als darum, den Anfahrer für unsere Sprinter zu geben und mit Blick auf die Mannschaftsverfolgung bei den Olympischen Spielen in London ein ordentliches Pensum in die Beine zu kriegen. Sky war mit Rigo Uran und Sergio Henao in den Top Ten vertreten, meine Aufgabe war daher, ihnen so lange wie möglich zu helfen.
Ich war noch ein Bahnfahrer, also war das am Mortirolo nicht gerade lange. Man sieht sich, Jungs, ich bin hinten im Gruppetto und leiste Cav und Stannard Gesellschaft. Her mit den Süßigkeiten, ein Hoch auf die brüderliche Kameradschaft der Abgehängten. Aber immer dran denken: Geredet wird nicht. Nicht an diesem Berg.“
Steckbrief des Buches „Radsportberge und wie ich sie sah“
Titel: Radsportberge und wie ich sie sah
Autor: Geraint Thomas
Verlag: Covadonga
Erscheinungsjahr: 2021
ISBN 978-3-95726-060-4
Umfang: 256 Seiten
Preis: 14,80 Euro
Zu bestellen direkt über den Shop des Covadonga-Verlages oder über den Buchhändler vor Ort.
Foto: mrpinko/Stefan Rachow