Omloop Het Nieuwsblad – eine Reportage von Radsportjournalist Harry Pearson
Das Rennen Omloop Het Nieuwsblad bildet den Auftakt zu den Frühjahrsklassikern und ist auch das erste WorldTour-Rennen der Saison auf europäischem Boden. Kein Wunder also, dass der Wettbewerb im Herzen Flanderns so viel Aufmerksamkeit bei Fans und Fahrern genießt. Einer, der die Stimmung bei diesem Rennen auf den Punkt gebracht hat, ist Sportjournalist und Belgien-Kenner Harry Pearson in seinem sehr lesenswerten Buch „Quer durch Flandern„. Hier ein Auszug aus dem Buch über den Omloop Het Nieuwsblad im Jahre 2017:
Im Vorfeld des ersten großen Straßenrennens der Radsportsaison 2017 tat die Wielerkrant alles, um dem Publikum zu vermitteln, dass ein großer Zweikampf bevorstand. Und zwar zwischen Peter Sagan und dem neuesten flämischen Helden Greg Van Avermaet, der im Sommer zuvor das olympische Straßenrennen in Rio de Janeiro gewonnen hatte.
Duell zwischen Greg van Avermaet und Peter Sagan beim Omloop 2017
Van Avermaet war der erste flämische Fahrer seit André Noyelle 1952 in Helsinki, der Olympiagold im Straßenrennen der Männer gewonnen hatte. Noyelle stammte aus Ypern und heuerte kurz nach den Spielen als Profi bei der französischen Alcyon-Dunlop-Mannschaft an. Nach seinem Olympia-Sieg gewann er viele kleinere Rennen, aber nichts Großes mehr. Sein Nachfolger Van Avermaet war inzwischen 31 Jahre alt, ein hoch aufgeschossener, gut aussehender Bursche mit der Sorte nichtssagend hübschem Gesicht, wie es einem Ex-Freund in einer romantischen Komödie mit Sandra Bullock in der Hauptrolle gehören mochte. Seine Profikarriere verlief weitaus eindrucksvoller als die von Noyelle – er gewann unter anderem drei Tour-de-France-Etappen –, aber nichts deutete darauf hin, dass er dem mächtigen Slowaken Paroli bieten könnte.
Sagan hatte fünfmal in Folge das Grüne Trikot bei der Tour de France gewonnen und war amtierender Weltmeister (ein Titel, den er auch 2015 schon geholt hatte). Er hatte die Eintagesklassiker Gent–Wevelgem (2013 und 2016), E3 Harelbeke (2014) und die Ronde van Vlaanderen (2016) gewonnen. Ach ja, dazu kamen vier Etappensiege bei der Vuelta, ein Europameistertitel und eine Mountainbike Weltmeisterschaft der Junioren. Und dabei war der Mann, den sie den »Tourminator« nannten, gerade erst 27. Der vermeintliche Zweikampf auf Augenhöhe sah tatsächlich eher aus wie einer, in dem es ein Citroën 2CV mit einem Monstertruck aufnimmt. Auch Van Avermaet schien gewaltigen Respekt vor Sagan zu haben. Zumindest versuchte er, das permanente Gerede von einem epischen Duell auf Kopfsteinpflaster abzudämpfen, indem er jedem Journalisten, der es hören wollte, erzählte, dass der Slowake seiner Einschätzung nach das ganze Jahr über die Eintagesrennen dominieren werde.
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Die Frühjahrsklassiker führen fast alle über die gleichen Hellinge und Pflasterabschnitte
Auf seinen 198 Kilometern folgt der Omloop weitgehend der gleichen Route wie die Ronde van Vlaanderen, inklusive der Hellingen, der kleinen, giftigen Hügel in den Flämischen Ardennen. Diese ballen sich in der Gegend südlich von Gent zwischen Ronse und Geraardsbergen, einem kleinen buckligen Höhenzug, der Flandern von Wallonien trennt. Die Kette umfasst unter anderem den Bosberg, den Berendries, den Oude Kwaremont, den Kluisberg, die Kapelmuur und den Koppenberg – letzterer ein Anstieg, der so berühmt ist, dass er sogar eine eigene Website hat. Die Namen der Hellingen haben für flämische Radsportfans enorme Strahlkraft, jeder von ihnen kann sie lückenlos und fehlerfrei runterrasseln, und allein ihre Erwähnung weckt ein seliges Gefühl von Wiedererkennen und Stolz.
In den letzten paar Jahrzehnten hat es, aus meiner Sicht zumindest, doch ein grundlegendes Problem im flämischen Radsport gegeben: zu viele Rennen, die sich um ein zu kleines Gebiet balgen. Wo die Frühjahrsrennen einst jeden Winkel von Flandern erkundeten – vorbei an den Hopfenfeldern im Südwesten, den wechselhaften Winden der küstennahen Ebenen trotzend und sich durch die blühenden Obstplantagen von Limburg windend –, lassen sie heute das meiste davon links liegen und sind stattdessen ganz auf die berühmten Hellingen und Kopfsteinpflaster fixiert.
Der Omloop, Dwars door Vlaanderen, E3 Harelbeke und die Ronde spielen sich alle weitgehend auf dem gleichen schmalen Streifen Land ab. Zwar liebt jeder den Paterberg, den Kluisberg, den Oude Kwaremont und all die anderen windschief gepflasterten Anstiege, doch scheint mir eine latente Gefahr zu bestehen, dass eine solche Übersättigung ihnen irgendwann den Nimbus nehmen und die öffentliche Begeisterung mindern könnte. Aber um ehrlich zu sein, deutete bislangnur wenig darauf hin.
Leider hatte mein Zug ab Gent Verspätung, möglicherweise aufgrund der schieren Massen an Pfadfindern, die meinen, an den Wochenenden mit dem Zug durch Belgien reisen zu müssen, und ich verpasste meinen Anschlusszug. Vor dem Bahnhof Zottegem traf ich auf ein junges französisches Pärchen, das auf der Suche nach dem Bus war, der sie mitnehmen würde, damit sie das Rennen am Molenberg verfolgen konnten. Der Molenberg ist ebenfalls eine der Hellingen.
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Molenberg – Scharfrichter beim Omloop
Der Molenberg ist nur 56 Meter hoch und 463 Meter lang, aber seit seiner Einführung bei der Ronde im Jahr 1983 hat er sich den grausamen Ruf erworben, Radrennfahrern reihenweise den Garaus zu machen.
Zum Teil liegt es an seiner Steilheit – um die 14 Prozent an der fiesesten Stelle – und der starken Wölbung des Straßenquerschnitts, die so ausgeprägt ist, als wäre der Anstieg aus einem umgedrehten Boot geformt.
Aber vor allem liegt es an den Pflastersteinen, die groß, uneben und holprig sind. Die Franzosen nennen sie Pavés, die Flamen »Kinderköpfe«; sollten Sie allerdings ein Kind haben, dessen Kopf so missgestaltet ist wie diejenigen am Molenberg, würde ich Ihnen raten, sofort mit ihm ein Krankenhaus aufzusuchen.
Es ist der besondere Straßenbelag, wegen dem die Menschen in Scharen an Anstiege wie diesen kommen, und als ich den Hügel hinaufging, passierte ich Dutzende Leute, die diesen Straßenbelag fotografierten und die Bilder dann auf Instagram posteten – als eine Art Pavé-Porno, wie ich es später taufte. Kopfsteinpflaster ist eines der prägenden Elemente des flämischen Radrennsports.
Jedoch war der Fortbestand dieses die Plomben aus dem Gebiss rüttelnden Untergrunds, der Karel Van Wijnendaele seinerzeit dermaßen begeistert hatte, in den 1950er Jahren durch den flächendeckenden Einsatz von Asphalt bei der Erneuerung der belgischen Straßen ernsthaft in Gefahr geraten. In der Tat war der Asphalt sogar eine belgische Erfindung, in 1870er Jahren ausgeheckt von einem gewissen Edward De Semdt. Ein Jahrhundert später drohte der moderne Baustoff nun, das Wesen des Radsports in Flandern unwiderruflich zu verändern und die Rennen sicherer, leichter, schneller und, nun ja, sehr viel langweiliger zu machen. Rennveranstalter sahen sich zunehmend gezwungen, das ländliche Belgien zu durchforsten, um noch Straßenabschnitte mit ihrem geliebten Kopfsteinpflaster aufzutreiben.
Oftmals befanden sich diese auf schmalen, vergessenen Wirtschaftswegen wie demjenigen am Molenberg. Schließlich, dank des Drucks seitens der flämischen Radsport-Gemeinde, wurde die belgische Regierung aktiv, um das Kopfsteinpflaster zu erhalten, und viele der berühmtesten Abschnitte sind heute denkmalgeschützt und werden vor Modernisierungsbestrebungen bewahrt.
Oben auf dem Hügel stieß ich auf ein Gehöft und eine Koppel, in der 14 Esel standen. Es gab kein Café. Überzeugt davon, dass irgendwo hinter der nächsten Ecke eines sein würde, ging ich weiter die Straße entlang, aber es gab nur Rübenfelder und flämische Streckenposten.
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Der Omloop brachte große Sieger hervor
Der Omloop mochte nicht das Prestige der Ronde van Vlaanderen haben, aber sein Status als Saisonauftaktrennen hat stets viele ausländische Teilnehmer angelockt. Fausto Coppi gewann das Rennen 1948, wurde aber anschließend wegen eines nicht regelkonformen Laufradwechsels disqualifiziert, wodurch Sylvain Grysolle aus Wichelen in Ostflandern zum Sieger erklärt wurde. Es war Grysolles einziger großer Sieg.
Wie nicht anders zu erwarten, dominierten flämische Fahrer das Rennen: Große Namen wie Herman Van Springel, Raymond Impanis, Roger De Vlaeminck, Frans Verbeeck, Freddy Maertens und Johan Museeuw haben sich in die Siegerliste eingetragen. Ein flämisches Trio hat das Rennen gleich dreimal gewonnen: Peter Van Petegem, Joseph Bruyère (geboren im niederländischen Maastricht, aber aufgewachsen in Belgien) und Ernest Sterckx, dem zu Ehren nach seinem dritten Sieg im Jahr 1956 in seinem Geburtsort Westerloo ein Fußballstadion benannt wurde (das inzwischen aber abgerissen wurde).
Als das Peloton sich näherte, versammelte sich rasch eine große Menschenmenge auf dem Molenberg, die Leute trafen per Fahrrad, Motorrad oder zu Fuß ein. Die Hobbyradsportler, die das Kopfsteinpflaster hinauffuhren, um einen guten Platz zum Zuschauen zu ergattern, wurden in der Regel mit Applaus und Anfeuerungen begrüßt, nicht alles davon ironisch.
Als ein Mann sich angesichts der Steigung geschlagen geben musste und abstieg, wurde er rundweg ausgebuht, worauf er in der Manier eines Fußballers, der nach einem verschossenen Elfmeter rasch ein Humpeln vortäuscht, an seiner Schaltung nestelte. Während er anseinem Umwerfer herumfummelte, wurde er von einem alten Mann in Regenmantel, Drillichhosen und robusten Halbschuhen überholt, der in kerzengerader Haltung auf einem sehr altertümlich wirkenden Rad von der Art saß, für die man sich in meiner Jugend noch Sprüche wie »Steig mal lieber ab und melk das Teil!« hätte anhören dürfen. Der Kerl neben mir, der eben erst auf einem Motorrad eingetroffen war, lachte und schüttelte den Kopf, als der alte Mann über die Kuppe fuhr, ohne einmal aus dem Sattel zu gehen. »Ich habe ihn schon den Kluisberg und den Berendries hinauffahren sehen«, sagte er. »Und jetzt den Molenberg. Erstaunlich.«
»Vielleicht hat er einen Motor im Rad«, mutmaßte ich. Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er ernst, »sein Motor ist hier drin«, und schlug sich mit der Faust auf die Brust.
Das Rennen traf ein. Das Kopfsteinpflaster war wirklich hundsmiserabel, und dem steilen Anstieg ging zudem eine scharfe, rechtwinklige Kurve voraus, die das Feld praktisch zum Stillstand brachte, aber es war trocken und die Fahrer zeigten sich von dem Hindernis unbeeindruckt.
Gleichwohl sah man ihre Ellenbogen von den unentwegten Schlägen des Pavés zittern, als sie den Molenberg hinaufkamen. Ein paar Minuten später war alles vorbei. Die Zuschauer klappten ihre Stühle zusammen, die Streckenposten packten ihre Flaggen und Trillerpfeifen ein. Ich machte mich auf den Weg den Hügel hinab und erwischte den Bus zurück nach Zottegem. In der Kneipe gegenüber vom Bahnhof verfolgte ich die letzten Kilometer des Rennens. Als Greg Van Avermaet sämtliche Prognosen Lügen strafte und Sagan im Sprint besiegte, gab es heiseren flämischen Jubel, Gläser wurden erhoben und dunkles, schaumiges Bier wurde über Köpfe und Schultern aller Anwesenden verteilt.
Steckbrief des Buches „Quer durch Flandern“
Autor: Harry Pearson
Covadonga-Verlag
Preis 16,80 Euro
288 Seiten
ISBN 978-3-95726.054-3
Sportjournalist und Autor Harry Pearson unternimmt eine „Reise“ durch Flandern, um den spannendsten zwölf Rennen einen Besuch abzustatten. Dabei steht er mal am Streckenrand, sitzt mal in Kneipen und redet mit Fans und Einheimischen über die Faszination dieser Rennen im Frühjahr.
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Fotos: Covadonga, Photonews.be