Giro d’Italia-Analyse: Die wichtigsten Erkenntnisse der zweiten Woche
Egan Bernal baut seinen Vorsprung in Rosa aus – und fährt wie ein Champion. Das Podium nimmt Gestalt an. Remco Evenepoel leidet. Qhubeka Assos schreibt ein kleines Märchen. Die Strade Bianche-Etappe bot das gewünschte Spektakel. Diese und andere spannende Erkenntnisse analysiert Alpecin Cycling nach der zweiten Woche des Giro d’Italia 2021.
Egan Bernal agiert wie ein Champion
Dass die Kapitäne von Ineos-Grenadier dem Rennen ihren Stempel aufdrücken, ist nicht neu. Die Art und Weise wie es Egan Bernal bei diesem Giro tut, dagegen schon. Er fährt und agiert wie ein Champion. Er wartet nicht ab und verwaltet seinen Vorsprung, sondern attackiert auch, wenn sich ihm die Chance eröffnet.
Seit vergangenen Montag nach der Bergankunft in Campo Felice fährt der Kolumbianer in Rosa. Seine Fahrweise ist aber seitdem offensiver anstatt defensiver geworden. Bestes Beispiel sind die Strade Bianche-Etappe sowie die verkürzte Etappe durch die Dolomiten zwischen Sacile und Cortina d‘Ampezzo. Ihm reichte eine Tempoverschärfung im Sitzen aus, um seine Mitstreiter abzuschütteln. Nicht auszumalen, wie diese Etappe ausgegangen wäre, wenn das Peloton über die komplette Distanz hätte fahren müssen, so wie es sich Bernal gewünscht hatte.
Unterstützt wird er aber auch von einem Team das jederzeit Herr der Lage ist, Verantwortung für das gesamte Peloton übernimmt wie auf der Etappe nach Goriza, und weiß was es tut. Und das im Vergleich zu früheren Jahren überaus charmant. Es scheint so, als hätte durch die italienischen und südamerikanischen Fahrer ein wenig Heiterkeit Einzug gehalten. Dem Team und dem Radsport kann das nur guttun.
Strade Bianche-Etappe bot das erwartete Spektakel
Obwohl der Regen ausblieb und sich die weißen Straßen der Toskana nicht in eine Schlammwüste verwandelten, war die Etappe zwischen Perugia und Montalcino auf den Gravel Roads das erwartete Ausscheidungsfahren. Während vorne der junge Schweizer Mauro Schmid die Etappe gewann, zeigte Bernal erneut seine Klasse und holte wichtige Sekunden auf seine direkten Konkurrenten heraus. Remco Evenepoel, Marc Soler und Dan Martin, der vor diesem Giro als Podiumskandidat gehandelt wurde, verloren hier nicht nur viel Zeit, sondern auch die Chance auf ein Top-Ergebnis im Gesamtklassement. Vergleicht man die Abstände der Top-Fahrer der Strade Bianche-Etappe mit der Bergankunft am Monte Zoncolan, sind die Zeitabstände fast vergleichbar. Ein Beweis dafür, dass tolle und aussagekräftige Rennen auch auf gemäßigtem Geläuf möglich sind.
Damiano Caruso – vom Edelhelfer in den Bergen zum GC-Kapitän
Aus der Not eine Tugend gemacht hat das Team Bahrain–Victorious nach dem schweren Sturz und dem Ausscheiden ihres Kapitäns Mikel Landa. Es hat Charakter gezeigt. Nicht nur durch die Etappensiege von Gino Mäder und den Parforce-Ritt von Jan Tratnik am Zoncolan, sondern vor allem durch den Auftritt von Damiano Caruso. Der Italiener hat anstelle seiner vorgesehenen Helferrolle die Position des GC-Kapitäns eingenommen und füllt diese bravourös aus. Immer in Sichtweite des Rosa Trikots.
Fünf Tage vor dem Ziel in Mailand liegt der 33-Jährige auf Rang zwei in der Gesamtwertung und überzeugte sowohl bei der Bergankunft am Monte Zoncolan als auch bei der verkürzten Königsetappe durch die Dolomiten. Sollte er keinen Einbruch mehr erleiden, dann ist ihm bei seiner 14. Grand Tour das erste Podium sicher. Einzige Schwierigkeit, sein Team ist stark dezimiert und er ist im Finale oft auf sich allein gestellt.
Simon Yates aus dem Rennen ums Rosa Trikot
Er gehörte für die Experten neben Egan Bernal zu den Top-Favoriten auf den Giro-Sieg. Kein Wunder, dominierte der Brite aus dem Team BikeExchange die Tour of the Alps nach Belieben. Beim Giro fuhr Yates in den ersten zwei Wochen relativ verhalten. Er war immer In Sicht- und Schlagweite von Egan Bernal und den Podiumsplatzierten, fuhr aber für seine Verhältnisse defensiv.
Nach der Zoncolan-Etappe, als er als einziger Fahrer Egan Bernal herausforderte, und sich nach der Etappe auf Rang zwei im Gesamtklassement vorschob, gab er zu, dass er zu Beginn des Giros durchaus Probleme hatte. Welche das waren, wollte er nicht sagen. Bei der verkürzten Königsetappe durch den Regen über den Passo Giao musste Yates allerdings als einziger aus dem Kreis der Top-Favoriten früh reißen lassen. Er rutschte auf Rang fünf in der Gesamtwertung ab liegt nun 4:20 Minuten hinter Egan Bernal. Der ursprünglich von ihm angestrebte Giro-Sieg scheint jetzt kaum mehr möglich. Gespannt wird man sein, ob Yates in der letzten Woche nochmal einen frühen Ausreißversuch startet und zumindest aufs Podium zurückkehrt.
Qhubeka ASSOS‘ Comeback
Fast schon ein Märchen ist die Geschichte des Teams Qhubeka ASSOS bei diesem Giro d’Italia. Ende vergangenen Jahres rettete der Einstieg der Radbekleidungsfirma Assos das Team noch vor dem Aus. Fünf Monate später bestreitet die Truppe mit viel Spaß und Freude, aber auch Cleverness die Italien-Rundfahrt. Drei Etappensiege hat das südafrikanische Team bereits eingefahren und nach einem mäßigen Frühjahr mit nur einem Sieg, scheint der Knoten jetzt geplatzt.
Mit fulminanten Antritt in einem Highspeed-Sprint gewann Giaccomo Nizzolo seine allererste Grand Tour-Etappe. Youngster Mauro Schmid siegte am Ende der legendären Schotter-Abschnitt-Etappe nach Montalcino. Und Victor Campenearts, nach seiner Wandlung vom Zeitfahrer zum aggressiven Straßenfahrer, trotzte dem Regen und der Konkurrenz auf dem Klassiker-Abschnitt nach Goriza. Hinzu kommen einige Top-Ten-Platzierungen auf weiteren Etappen. Das Team zeigt sich sehr harmonisch und geschlossen – auch im Gruppetto, wie Max Walscheid mit einem Augenzwinkern über die Königsetappe auf Instagram postete.
Kein Happy End für Remco Evenepoel
Das Comeback des jungen Belgiers hätte das Zeug zu einem Hollywood-Film gehabt… Wenn Remco Evenepol rund 8 Monate nach seinem schweren Sturz bei der Lombardei-Rundfahrt jetzt beim Giro in Rosa gefahren wäre und dieses auch bis zum Schluss verteidigt hätte. Doch es kam anders. Dem jungen Belgier, der mit dieser Italien-Rundfahrt seine allererste Grandtour bestreitet, schwinden so langsam die Kräfte. Schon auf der Strade-Bianche-Etappe handelte er sich einen Rückstand von mehreren Minuten gegenüber den anderen GC-Fahrern ein. Am Zoncolan konnte er den Rückstand noch in Grenzen halten, doch auf der Königsetappe durch die Dolomiten war früh Schluss.
Doch all dessen, waren sich der Belgier und auch sein Team bewusst. Immer wieder wurde betont, dass man Evenepoel auch aus dem Rennen nehmen würde, wenn die Belastungen zu groß werden. Mal schauen, wie er aus dem Ruhetag kommt. Sein erklärtes Ziel ist, seinen Teamkollegen Joao Almeida, der sich in die Top Ten schob, zu unterstützen und ein gutes Abschlusszeitfahren in Mailand zu zeigen.
Instagram-Live Talk mit Bernd Landwehr, Chefredakteur des Cyclingmagazine, zur zweiten Woche des Giro d’Italia
Fotos: RCS Sport/La Presse