L’Etape du Tour: Die Tour de France der Jedermänner
Bei der diesjährigen Tour de France hatten die Hobbysportler den Profis etwas ganz Entscheidendes voraus. Die Jedermänner konnten knapp eine Woche vor der Elite die 20. Etappe während der L‘Etape du Tour in Gänze bestreiten. Einer der 16 000 Teilnehmer, der am Start stand, war Bastian Picker aus dem Team Alpecin. Er nimmt Dich mit auf seinen lust- und leidvollen Ritt über die volle Distanz.Sonntag, 21. Juli 2019. 5:30 Uhr. Leichte Dämmerung. Angenehme Temperaturen. Irgendwo kurz vor Albertville, in einem Tal in den französischen Alpen. Idylle. Doch an diesem Morgen ist alles etwas anders als sonst – wir befinden uns im Team Alpecin Basecamp! Die letzten Vorbereitungen für das Saisonhighlight laufen. Hier und da nervöse Unruhe, ein paar Snacks, der letzte Kaffee, unzählige Toilettengänge und Instagram-Live-Videos. Klar, Social Media darf auch jetzt natürlich nicht zu kurz kommen! Dazu letzte Bike-Checks und Gruppenfotos, bis es um kurz nach sechs in Richtung Start geht. Die L‘Etape du Tour – die Originalstrecke der 20. Etappe der diesjährigen Tour de France (ja, die ganzen 135 Kilometer und nicht die Light-Version der Profis mit nur einem Anstieg) – jetzt geht es also wirklich los!
Vorbereitungen auf Profi-Niveau oder auch „business as usual“
Rückblende: Donnerstagmittag, der Anreisetag. Mit gemischten Gefühlen geht es für mich nach Frankreich, eine Trainingspause von knapp drei Wochen Mitte Juni wegen einer Erkrankung liegen hinter mir, sicher nicht die allerbeste Vorbereitung für die knapp 4500 Höhenmeter, die hier verteilt auf 135 Kilometer auf uns warten sollten… Nach und nach treffen die Jungs und Mädels des Team Alpecin 2019 im Club Med zu Valmorel ein, einen für Frankreich typisch riesigen Hotelkomplex mitten im Ski-Ressort. Uns soll es hier an nichts fehlen, auch wenn das Hotel in Sachen Flexibilität von Frühstückszeiten sicher nicht herauszustechen wusste. Doch für uns heißt es dennoch: Rund-um-die-Uhr-Versorgung in herrlichem Alpenpanorama und die gewohnt perfekte Betreuung von Seiten unserer Alpecin-Orga-Mannschaft. Eine bessere Vorbereitung auf ein bretthartes Rennen kann man sich nicht vorstellen. „Live like a Pro“ – was im März in Bielefeld unter diesem Motto begann, soll hier in Frankreich seinen Höhepunkt finden.
Der Freitag steht im Zeichen der Akklimatisierung – lockere Radrunde inklusive Abholung der Startunterlagen in Albertville. Hier sind eigens für uns Duschmöglichkeiten und ein gemeinsames Mittagessen in einem Hotel organisiert, welches eine gute Grundlage für den Rückweg darstellen soll, den einige von uns – motiviert wie immer – mit dem Rad auf sich nehmen sollten. Der letzte kleine Härtetest vor dem Wettkampf quasi – denn zurück zu unserem Hotel wartet ein zwölf Kilometer langer Anstieg auf uns, wohlgemerkt ein Drittel der Länge des Anstiegs nach Val Thorens, der zwei Tage später auf uns warten wird. Am Samstag geht es für uns noch einmal aufs Rad. „Vorbelastung“ ist angesagt, eine kleine, entspannte Runde durch das Tal zwischen Albertville und Moutiers. Immer mit dabei unsere beiden Guides John und Alex. Was für geile Typen! Aber dazu gleich noch etwas mehr… Der Anstieg zum Hotel bleibt uns heute erspart, stattdessen geht es mit dem privaten Shuttle zurück auf den Berg. Dort angekommen heißt es für den Rest des Tages „Beine hoch“! Die letzten Vorbereitungen an den Rädern werden getroffen, am Abend die letzte Teambesprechung. Die Anspannung hält sich eigentlich noch in Grenzen, die Vorfreude auf das Mega-Event übertrumpft dann doch alles. Das Abendessen im Schatten, der jedes Mal aufs Neue beeindruckenden Bergkulisse findet heute etwas früher statt, alle wissen nämlich, dass es am nächsten morgen früh losgehen wird… Mit dem Einschlafen ist das übrigens auch so eine Sache. Es geht bereits gegen 21:30 Uhr ins Bett – das Ziel ist sechs Stunden Schlaf. Doch aus den sechs werden geschätzt eher vier, bis der Wecker um 3:30 Uhr in der Früh schon wieder klingelt.
Raceday – wer viel fahren will, muss früh aufstehen
Eine nicht abgeschlossene Zwischentür zu unseren britischen Teamkollegen und Zimmernachbarn Michael und Nick macht eine kleine Wake-up-Party möglich – DJ Dave – mein Zimmergenosse David Volkmann – gibt alles! Bevor es mit dem Shuttle in Richtung Startbereich in Albertville geht, sollte ein reichhaltiges Frühstück die nötigen Grundlagen für die Alpenetappe geben. Doch weit gefehlt. Ein (zugegeben) deutlich verfrühtes Frühstück ist für das Hotel aus logistischen Gründen leider nicht möglich, sodass uns leider nur ein(!) gefüllter Obstkorb und Schokoriegel in der Hotellobby erwartet. Als Rennvorbereitung natürlich eine Katastrophe. Doch wofür haben wir einen ehemaligen, mehrfachen Tour de France-Teilnehmer als Directeur Sportif dabei? Genau, für die guten Tipps! So wurden wir, aufgrund einer leisen Vorahnung, bereits auf das fehlende Frühstück vorbereitet und hatten uns auf Anraten von Chef Jörg „Analog-Lude“ Ludewig bereits am Vorabend ein herrlich trockenes Haferflocken-Gemisch gezaubert. Dazu ein köstlicher Instant-Kaffee und ab ging die wilde Fahrt im Shuttle nach Albertville. „Wild“, weil unser Taxifahrer auch noch um den Großen Preis von Frankreich fährt. Nach kurzer Irrfahrt über diverse, halb gesperrte Autobahnauf- und ausfahrten werden wir am Rande einer kleinen Straße mitten im Nirgendwo abgesetzt.
Im Nirgendwo? Mitnichten. Hier befindet sich das Alpecin Basecamp – unser ganz persönliches Fahrerlager und Paddock, Aufgebaut von unseren oben bereits erwähnten Guides! Wahnsinn, welche Mühe sich die Jungs mit Unterstützung von Amandine gemacht haben. Es gibt noch einmal frischen Kaffee und ein paar Snacks. Dazu die Möglichkeit in einem der Campingstühle in Ruhe über das nachzudenken, was einen erwarten wird. Wer muss, konnte auf coole Camping-Toiletten ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Um Punkt sechs Uhr rollen wir gemeinsam zum Startgelände.
Start zum Saisonhighlight: Angriff auf die Gipfel der Tour de France
Hier ist alles perfekt organisiert – die Jungs der ASO machen so etwas eben nicht zum ersten Mal – und das merkt man auch! Perfekt abgesperrte Straßen und absolut makellose Organisation des Rennens. Da kann auch eine kleine Verzögerung wegen einer Zugdurchfahrt auf der Strecke das Ganze nicht durcheinanderbringen. Also geht es für mich, gemeinsam mit David und Adrian aus Startblock 2 um 7:15 Uhr auf die Strecke. Ab jetzt bergauf. Im wahrsten Sinne des Wortes… Bereits nach dem Verlassen der Stadt müssen wir die ersten Höhenmeter überwinden, gepusht von der Stimmung und dem Adrenalin natürlich wie immer etwas zu schnell. Doch gegenseitig können wir uns gut dazu überreden, es dann doch etwas ruhiger angehen zu lassen. Im Anstieg zum Cormet de Roselend, dem ersten des Tages, finde ich mich dennoch nach kurzer Zeit alleine wieder. Unsere kleine, aber feine Alpecin Truppe hat sich am Fuß des Anstiegs verloren und so ist ab jetzt jeder auf sich allein gestellt. Den Anstieg absolviere ich in einem (noch) angenehmen Tempo, immer die Worte von Coach Flo im Hinterkopf. Der erzählt zwar viel, wenn der Tag lang ist, doch mit „Des musch ruhig angehe!“ und „Lass die mal alle erstmal fahren!“ sollte er dann doch Recht behalten. Je weiter es in Richtung Gipfel geht, desto beeindruckender werden die Bilder. Der Bergsee des Roselend ist in jedem Fall einen Besuch wert! Vielleicht aber lieber dann, wenn man nicht gerade mit 16000 anderen eine Tour de France Etappe fährt. Dennoch versuche ich, so viel wie möglich der Bilder, die sich mir bieten, zu genießen. Was für eine Aussicht! Gemeinsam mit Fränk Schleck, der sich zufällig auf einmal neben mir befindet, geht es für mich in die rasende Abfahrt in Richtung Bourg-Saint-Maurice. Teilweise sehr enge Kurven und technisch anspruchsvoll, aber alles in allem eine gut zu fahrende Abfahrt.
Nach der Ortsdurchfahrt geht es quasi direkt in den Gegenanstieg, der zwar „nur“ als Berg der 2. Kategorie ausgeschrieben ist, sich jedoch als ziemlich giftig herausstellen wird… Hinzu kommt, dass sich die Tour-Organisatoren das kleine Feature ausgedacht hatte, die Bergwertung schon unterhalb des eigentlichen Gipfels abzunehmen. Es geht also noch eine Weile weiter bergauf, bevor die sehr kurvenreiche und von schlechtem Asphalt geprägte Abfahrt nach Moutiers auf dem Programm steht. Hier muss man schon den einen oder anderen Gang mehr rausnehmen und trotz der bereits geleisteten 2800 Höhenmeter voll konzentriert agieren, um nicht einem der diversen Schlaglöcher zum Opfer zu fallen. Im Tal geht es über einen Teil einer gesperrten Schnellstraße direkt in Richtung der hauseigenen Alpecin-Versorgungsstation. Hier warten John und Co. auf uns, um uns mit kleinen belegten Weißbrot-Stückchen, Cola und anderen Leckereien zu versorgen. Ich muss zugeben, es wird jetzt schon mal Zeit, dass ich etwas anderes zu mir nehme als Energieriegel und Wasser. Doch vom Wettkampfmodus getrieben, versuche ich hier nicht viel Zeit zu verlieren und gehe schnell wieder auf die Strecke. Angeschoben von Alex und angefeuert von wirklich vielen Zuschauern am Streckenrand erlebe ich schon etwas von echtem Tour-de-France Feeling – Gänsehaut-Momente inklusive. „Alléz“ und „Courage“ sind zwar lieb gemeint, doch nun kommt das, wovor ich doch jede Menge Respekt habe. Der 35 Kilometer lange Schlussanstieg zur Skistation nach Val Thorens.
Hors Catégorie-Anstiege – Ein Kampf mit sich selbst
In einer scharfen Rechtskurve geht es auf eine schmale Straße, welche sich die ersten Kilometer, leicht bis mittelschwer ansteigend, den Berg hinauf schlängelt. Der Rest ist eigentlich schnell erzählt: Es läuft zäh. Sehr zäh. Obwohl ich mich am Fuße des Anstiegs für das, was bereits abgefrühstückt war, noch relativ fit fühle, gehen meine Energiespeicher doch schneller zur Neige als mir lieb ist. Als größtes Problem stellt sich jedoch die mentale Fitness heraus. Ich habe viel Zeit nachzudenken, über das, was ich gerade tue. Sehr viel Zeit. Zu viel Zeit. Oft erwische ich mich dabei, dass ich mir die Frage stelle, warum ich mir das überhaupt antue. Auf mittlerweile breiter gewordener Straße zieht sich die Strecke wie Kaugummi… immer noch 20 Kilometer zum Ziel, ich lege noch einmal einen kurzen Zwischenstopp ein, um meine Flaschen wieder aufzufüllen. Ab Kilometer zehn vor Schluss zähle ich gefühlt jeden einzelnen Meter herunter. Am Rand finden sich ein Fahrer nach dem anderen mit Krämpfen im Schatten eines Baumes wieder – die Sonne brennt mittlerweile schließlich auch nicht schlecht und Schatten ist, abgesehen vom äußersten Straßenrand, Fehlanzeige. Vor dem Rennen anvisierte Wattzahlen habe ich bereits früh über Board geworfen, der Kampf (vor allem mit sich selbst) geht jetzt in seine letzte Runde…
An der Fünf-Kilometer-Marke, welche nach gefühlt weiteren vier Stunden Kletterei endlich erreicht ist, ist auch der Zielort Val Thorens bereits zu erkennen. Es gibt nur ein Problem: Zwischen mir und eben diesem Ort liegen noch ungefähr acht Kehren und einige hundert Höhenmeter. Was als Kampf begann, wird dann doch zur Qual. Immer wieder muss ich mich überreden, jetzt doch nochmal alles reinzulegen, es ist ja schließlich nicht mehr weit. Die letzten zwei Kilometer lassen schließlich auch die letzten Zweifel schnell verfliegen. In einer der letzten Kehren wartet unser Starfotograf Stefan (Mr. Pinko) bereits mit aufgebautem Blitz, um die besten Bilder von uns schießen zu können (völlig verrückt der Typ!). In der besagten Kehre ziert darüber hinaus ein riesiger Team-Alpecin-Schriftzug mit allen Namen der Teamfahrer die Straße. Wow! Das ist schon richtig geil! Den Jungs von „guilty76“ sei Dank, was für ein Erlebnis!
Gepusht von diesen Momenten geht es in den Skiort Val Thorens und unter der Flamme Rouge – dem Teufelslappen – hindurch auf den letzten Kilometer. Hier passiert mir der Fehler, der wohl auch einigen anderen Starten noch zum Verhängnis werden sollte: kann ja nicht mehr viel kommen, also Vollgas. Leicht bergab geht es auf eine kleine Schotterpiste – unter dem Jubel von Coach und Teamchef – welche nach einem kleinen Rechtsknick in Richtung Ziel führt. Bergauf. 600 Meter, gefühlt wie mindestens 6000 Meter bei einer Steigung im zweistelligen Prozent-Bereich. Ich bin bisher auf dem Rad noch nie so eingegangen wie auf diesem letzten Stück bis ins Ziel. Den Status einer Tour-Etappe hatte sich der Streckenverlauf auf jeden Fall verdient. Und doch sind die letzten Meter trotz der Anstrengung Genuss pur. Durch das Spalier der frenetischen Zuschauer auf die Ziellinie zuzufahren, das hat was. Es ist tatsächlich vollbracht: L’Etape du Tour 2019 – done and dusted! Nach einem kurzen Moment des körperlichen und emotionalen Sammelns dann eine erste Reflektion der Geschehnisse: Was war das für ein Ritt! Grenzerfahrungen auf dem Rad inklusive. Ich brauche tatsächlich erstmal ein wenig, um zu realisieren, was ich da alles erlebt habe. Ich bin unterwegs gefühlt zehn Tode gestorben und doch ist mir eigentlich direkt klar, ich bin so etwas nicht zum letzten Mal gefahren. Das Gefühl nach der Zieldurchfahrt entschädigt da schon echt für Einiges, was man unterwegs durchgemacht hat! Den Rest des Nachmittags nutzen wir für das Auffüllen der Speicher und das Anfeuern aller anderen Teamfahrer/innen. Das eine oder andere hopfenhaltige Getränk durfte als Belohnung für das monatelange Training natürlich nicht fehlen!
Da mir zugetragen wurde, ich solle mich doch mal etwas kürzer fassen (sorry, hat nicht geklappt), soll es das an dieser Stelle gewesen sein. Jedoch nur für den Bericht über unser Saisonhighlight, nicht für diese unglaubliche Radsaison im Team Alpecin. Es warten noch einige Highlights auf die anderen Fahrer und mich: die Cyclassics in Hamburg, der berühmt-berüchtigte Ötztaler Radmarathon (was ist dagegen schon eine Tour de France-Etappe?!) und der Münsterland-Giro zum Saisonabschluss. In diesem Sinne: It’s not over yet! Ride on!
Fotos: Stefan Rachow/Mr. Pinko, Henning Angerer
Auf Dauer die Radprofis im Fernsehen zu verfolgen, war dem Maschinenbaustudenten aus Aachen dann doch zu langweilig. Er wollte selbst erfahren, wie das so ist, seine Nase in den Wind zu stecken. Zudem suchte er einen aktiven Ausgleich zum Studium. Also erst mal ’nen gebrauchten Renner gekauft – ein T-Mobile-Replika aus Aluminium. Ein Trainingspartner war ebenfalls schnell gefunden, denn der Mitbewohner im Studentenwohnheim, ein Wettkampf-Ruderer, nahm ihn gleich mit zum Ausdauertraining an Land. Und die Strecken rund um Aachen nach Belgien und den Niederlanden bieten ja gleich echtes Klassiker-Feeling.