L‘Etape du Tour: Rad-Profi für einen Tag
Hobbysportlerin Johanna Zimmermann startete bei der L’Etape du Tour: Eine Woche vor den Profis bestritt die 32 Jahre alte Hamburgerin die legendäre Alpenetappe der Tour de France 2022. Mit 16 000 Gleichgesinnten kletterte sie über den Col du Galibier, den Col de la Croix de Fer hinauf nach Alpe d‘Huez. Hier ihr Erfahrungsbericht:
„Ich bin Johanna und fahre seit zwei Jahren Rennrad in und um Hamburg. Während Corona hatte mein Fitnessstudio, in dem ich CrossFit mache, geschlossen und so suchte ich mir eine neue Herausforderung – Rennrad fahren, wobei ich mittlerweile auch gravele.
Als ich Alpecin Cycling bei einem Event im Rahmen des OMR-Festivals kennenlernte und ich gefragt wurde, ob ich nicht die L‘Etape mitfahren wolle, sagte ich natürlich euphorisch zu. Ohne wirklich zu wissen, auf was ich mich da einlasse.
Race across France als „Training“ für die L’Etape du Tour
Als ich mir das Höhenprofil und die Strecke genauer anschaute, wusste ich, dass das Hamburger Flachland nicht unbedingt ein Vorteil für das Training darstellen sollte. Ich ignorierte einfach den Waseberg und trainierte viel Grundlagenausdauer – wahrscheinlich 15 bis 20 Stunden die Woche. Nebenbei absolvierte ich natürlich meine fünf CrossFit-Einheiten pro Woche. Zugute sollte mir mein erstes Ultrarennen, das Race across France mit 370 Kilometer und 7200 Höhenmeter, zwei Wochen vor der L´Etape kommen. Dort konnte ich endlich Höhenmeter sammeln und lernen, wie man Abfahrten fährt.
Nachdem das Ultrarennen erfolgreich und mit viel Freude überstanden ist, geht es nun direkt wieder nach Frankreich. Als ich ankomme, lerne ich direkt wahnsinnig nette Menschen kennen und wir machen erste kleine Ausfahrten, um die Bikes zu testen und die richtigen Einstellungen zu finden. Ich hatte mein Fahrrad nicht mitgenommen. So vergehen die ersten zwei Tage mit gemeinsamen Rad fahren, Leute kennen lernen und klönschnacken.
Nur einmal ergreift mich leichte Panik. Jörg erläutert am Vorabend des Events die Route und erklärt, wo die Verpflegungsstände sein werden. Wir können eigene Verpflegungsbeutel packen und diese für die Alpecin-Stationen abgeben. An dieser Stelle frage ich mich, was ich hier eigentlich mache, da ich nicht die leiseste Ahnung habe, was ich in meine Beutel packen soll. So werfe ich wahllos irgendwelche Dinge in einen Beutel für Station 3, um es den anderen gleich zu tun… Das beruhigt; zumindest ein bisschen.
Der Wecker klingelt irre früh – gegen 04:30 Uhr. Zum Glück bin ich Frühaufsteherin – und es gibt Frühstück bei 4 Grad auf unserem wunderschönen Campingplatz. Der Kaffee geht weg wie warme Semmeln und alle sind gedanklich etwas abwesend, da jeder mit sich selbst beschäftigt ist. Die Stimmung ist trotzdem gut! Mit ungefähr 10 Lagen Klamotten radeln wir gemeinsam die 7 Kilometer runter bis zum Start in Briancon. Dort geben wir noch die Jacken ab, machen ein Gruppenfoto und teilen uns in unsere Startwellen auf.
L’Etape du Tour: Mit 16 000 Hobbyradsportlern die Alpen erobern
Zwischen tausenden anderen verrückten Hobbysportlern stehe ich in der 3. Startwelle und plausche nett. Beeindruckt von den Eindrücken, der Stimmung und der morgendlichen Frische, geht es plötzlich los. Pünktlich, wie in meinen Startunterlagen vermerkt, um 07:22 Uhr.
Wir rollen geschmeidig los und ich fahre mich erstmal warm. Nach einigen Kilometern suche ich mir ein Hinterrad und fahre entspannt mit. Überall am Streckenrand stehen Menschen, trinken Kaffee und feuern uns an. Mit dem Col du Galibier liegt der erste Berg vor mir. 23 Kilometer lang, durchschnittlich 5,1 Prozent steil soll er uns auf über 2600 Meter bringen. Auf das Dach der Tour. Der höchste Punkt, den die Profis bei der Frankreich-Rundfahrt 2022 wenige Tage nach uns erklimmen werden. Ein Mythos, sagen alle.
Ich fahre einfach drauf los, denn hinter mich bringen, muss ich das Ganze ja irgendwie. Mit jedem erklommenen Höhenmeter wird die Aussicht auf die französischen Alpen atemberaubender und lenkt hervorragend von der Anstrengung ab. Wenigstens kann man sich langsam Jacke und Weste ausziehen, denn es wird warm. Am Gipfel des Galibiers angekommen, kommen mir direkt die Tipps in den Kopf wie “direkt weiterfahren“ und „keine Pause machen”. So fahre ich einfach weiter, mache meine Weste zu, setze mir die Brille auf und stopfe mir Gel Nr. 4 in den Mund und verpasse die Chance auf ein Foto. Die Abfahrt macht einfach nur Spaß und ich genieße die Abkühlung, die Aussicht und dass endlich die noch zu fahrenden Kilometer schrumpfen.
Nach einer kurzen Verschnaufpause steht schon der nächste Berg bevor: der Col de la Croix de Fer. Und wieder rolle ich in den Berg und denke mir, wenn du den gepackt hast, ist über die Hälfte geschafft. An der Alpecin-Station decke ich mich mit neuen Gels und Wasser ein, denn es ist inzwischen sehr heiß geworden. Als Betreuer Basti mir dann sagt, dass ich mich unter den Top 20 befände und Gas geben solle, ist das genau die richtige Motivation für mich, um die weiteren Fotostopps auszulassen und weiterzufahren! 🙂
Bergab springt mir die Kette ab – Anwenderfehler, nehme ich an. Beim Reinbasteln bekomme ich einen leichten Krampf im Oberschenkel und sofort denke ich, dass ich es so niemals ins Ziel schaffen werde. Ein absolutes Wechselbad der Gefühle! Die Ebene zum letzten Anstieg ist für mich Seelenbalsam, da ich merke, dass die Beine doch noch frisch sind und ich mich hier auskenne. So kreisele ich mit einer Gruppe und mein Herz hüpft direkt wieder voller Freude. Die Kilometer fliegen nur so dahin.
L’Etape du Tour: Finale auf den berühmten Kehren hoch nach Alpe d’Huez
Und plötzlich stehe ich vor dem letzten Anstieg: Alpe d`Huez. 13,8 Kilometer mit einer durchschnittlichen Steigung von 8,1 Prozent – und das bei gefühlten 45 Grad. Die Erleichterung überwiegt noch den Respekt vor dem verbleibenden Anstieg. Bereits nach zwanzig Minuten ändert sich das Gefühl und ich tröste mich nur noch, dass es bald geschafft ist.
Die letzte Alpecin-Verpflegungsstation kommt. Hier decke ich mich erneut mit Gels ein, stürze eine Cola auf Ex runter (wohl die beste in meinem Leben!) und lege mir eine Socke mit Eiswürfeln in den Nacken.
Ich fahre weiter. Zwischen Schatten suchend, auf dem Garmin ständig die verbleibenden Höhenmeter checkend und die Aussicht genießend, frage ich mich, wieso ich das eigentlich mache. Und dann kommt endlich die Antwort: “Anstieg abgeschlossen” sagt der Garmin und in der Übersicht sind keine Anstiege mehr offen.
Überglücklich, überwältigt von Emotionen und dem Gefühl, es gleich geschafft zu haben, höre ich Sarah und Pam in einer immensen Lautstärke rufen, sodass ich doch noch ein paar Watt draufpacke. Und da sind sie, die letzten Meter bis ins Ziel. Hier stehen so viele Menschen und trommeln gegen die Bande, dass ich die leichte Steigung der Zieleinfahrt gar nicht mehr merke. Da bin ich! Im Ziel – und werde auch direkt von einem jungen Mann aus der Zieleinfahrt geschoben.
Ich treffe die anderen, schnappe mir ein kühles Bier und gehe duschen. Langsam realisiere ich, dass ich sicher im Ziel angekommen bin und sich die Vorbereitung gelohnt hat. Und als ich sehe, dass ich 3. in meiner Altersklasse geworden bin und es tatsächlich in die Top 20 bei den Frauen geschafft habe, gönne ich mir gleich noch ein paar Bier.
PS: Meinen an Verpflegungsstation drei deponierten Beutel habe ich übrigens nicht gebraucht. Im Rennen wusste ich nicht einmal mehr, dass ich dort einen hinterlegt habe.
In der Retrospektive muss ich feststellen, dass ich erstens an einem solchen Event sofort wieder teilnehmen und zweitens auch direkt auch wieder das Rennen fahren würde. Ich habe so viele tolle und beeindruckende Menschen kennengelernt, durfte Teil einer Cycling-Familie sein, in den Genuss eines extrem gut organisierten Events kommen, aber vor allem einfach ich selbst sein. Es waren unbeschreibliche Tage!
An dem Rennen würde ich direkt wiederteilnehmen, da man an seine Grenzen kommt, die Natur unbeschreiblich schön ist, die Stimmung einzigartig und man sich selbst anders und vielleicht auch besser kennenlernt. Es ist das Gesamtpaket von Vorfreude, intensiven Trainingseinheiten, Aufregung, Adrenalin am Renntag und unfassbarer Erleichterung, wenn man heil im Ziel angekommen ist.“
Fotogalerie L’Etape du Tour 2022
Fotos: Stefan Rachow / mr.pinko