Auf Abwegen: Gravel-Event Jeroboam im Süden Österreichs
Die Hobbyradsportlerin und das ehemalige Team Alpecin-Mitglied Nora Turner (Unicorn Cycling) hat sich einer besonderen Challenge gestellt. Die Wahl-Wienerin nahm am Gravel-Event Jeroboam in Kärnten teil. Hier ihr Erfahrungsbericht:
Was haben Sekt-Flaschen und Gravel-Bikes gemeinsam? Diese Frage stellten sich offenbar die Macher der internationalen Jeroboam-Serie. Geboren war ein Event, dessen Distanzen sich an die Gebinde des sprudelnden Traubensafts anlehnen: Jeroboam ist eine 3-Liter-Flasche und bedeutet für die Fahrer:innen somit eine Distanz von 300 Kilometer (mit knackigen 7000 Höhenmeter), Magnum sind 150 Kilometer und Classic eben die klassische Bouteille mit 75 Kilometer.
Seit wenigen Jahren macht die Serie auch in Österreich halt, genauer gesagt im idyllischen Süden. Velden am Wörthersee liegt kurz vor der italienischen Grenze und Nahe am Dreiländereck – auf der längsten Distanz ist es somit Pflicht, einen Ausweis bei sich zu tragen, denn es werden hier neben den persönlichen auch physische Grenzen überschritten.
Für mich, seit Winter 2018/19 regelmäßig auf Schotter unterwegs, sollte es aber ein gemütlicherer Tag werden. Bis zuletzt war ich mir unsicher, ob ich die Magnum- oder Classic-Route wählen würde. Das Wetter in Kärnten kann Anfang Oktober echt fies sein und auch meine technischen Skills sind auf Trails generell – und vor allem nassen, matschigen Trails – wirklich ausbaufähig. Und über 100 Kilometer und eine vierstellige Höhenmeter-Zahl bin ich auf dem Gravelbike auch noch nie hinaus gekommen.
Noch dazu gibt es kein Klassement, höchstens jenes, wo es um den meisten Spaß und die lustigste Gruppe geht. Aber seien wir ehrlich: Für 75 Kilometer Radeln ist vier Stunden Bahnfahren dann doch etwas unverhältnismäßig und so legte ich mir am Vorabend meine Siebensachen für 150 Kilometer und 2.400 Höhenmeter bereit!
Nachdem es die letzten beiden Tage bereits durchgeschüttet hatte, begrüßte uns beim Start der nasse Asphalt, jede Menge Nebel und ein fantastischer Wetter-Bericht – kein Sarkasmus! Während die 300 Kilometer-Starter bereits seit Donnerstag beziehungsweise Freitag auf der Strecke waren und zum Teil bereits kapituliert hatten, rollten wir also um 8 Uhr morgens los.
Zunächst führte die Strecke über Asphalt und malerische Forststraßen nach Villach! Nach jeder Kurve erwartete uns mehr “Gravel-Porn” – diese perfekten Wege, wo die Linie einfach vollkommen klar ist und der Schotter nie zu lose. Aber auch einige Straßen – laut Garmin und Komoot – die aber einfach nur flach gefahrener Lehm waren.
Ich dachte zuerst an eine Baustelle, aber nein, die Locals klärten mich auf: das ist eine waschechte Straße! Hier musste ich das erste Mal eine gehörige Portion Vertrauen in meine Reifen-Wahl stecken (aber dazu später mehr), aber alles gut gegangen und belohnt wurde ich nach dem höchsten Punkt des Events mit einem Loch in den Wolken. Und dem unbezahlbaren Blick auf den Ossiacher See an einem ruhigen Samstagmorgen.
Nach der Gravel-Abfahrt nach Villach (“Bitte nicht sterben! Bitte nicht sterben!”) führte uns die Route entlang der Gail nach Nötsch. Entlang der imposanten Hänge des Dobratsch, den wir später erklettern würden. Hier ging es flach dahin und neben der Bahn-Trasse Richtung Fürnitz und den beeindruckenden Wassermassen gab es hier auch nicht allzu viel Abwechslung, daher nützen wir diese knapp 30 Gravel-Kilometer für ein großes Kompliment an jene, die die Routen gescoutet haben.
In Österreich gibt es nämlich eine Werbekampagne der ehemaligen Tourismus-Ministerin “You like it, bike it!” – die einfach so gar nicht der Realität entspricht. Auf sehr vielen Forststraßen ist das “Biken” streng verboten und Dispute mit Förstern und Besitzern stehen an der Tagesordnung. Eine so schöne, so gut fahrbare Route mit so viel Gravel-Anteil zu finden, die auch (fast zur Gänze) legal ist, grenzt an Wahnsinn. Und doch haben genau das die Veranstalter geschafft!
Aber auch sonst wurde an alle Dinge gedacht, die uns Gravelbikern wichtig sind: in Nötsch wartete eine alteingesessene Bäckerei mit einem malerischen Garten darauf, uns die letzten Apfelkuchen, Linzer Törtchen und Schaumrollen auszuhändigen. Direkt danach ging es in Richtung Bleiberg in den Anstieg auf den Dobratsch. Und AUA. Der war steil und unerbittlich.
Genau so wie meine frisch gewartete Schaltung, die mir plötzlich die zwei leichtesten Gänge stahl. Tolle Idee, das mit den super fein abgestuften Gravel-Gruppen, die schon bei einem Sandkorn aus dem letzten Loch pfeifen.
Apropos letztes Loch: Da pfiff ich nun auch hinaus, aber zum Glück munterte mich die nette Gruppe und die Aussicht auf den Ausblick auf! Nach einer angekündigten Schiebe-Passage und einem fiesen Trail entlang eines Berghangs waren war dann endlich wieder auf knapp 1000 Meter Seehöhe.
Ein paar Mal kam ich noch einmal ins Fluchen: 40 Millimeter breite Reifen mit leichtem Gravel-Profil (Tufo Gravel Thundero und Conti Terra Speed) mit Schlauch bieten dann doch etwas weniger Komfort und Sicherheit, als einige andere Fahrer:innen auf ihren MTB-ähnlichen Reifen genossen.
Der Boden war vom Regen gesättigt und immer wieder fuhren wir durch kleine Rinnsale. Wirklich nichts Dramatisches aber doch etwas, was einen Weekend-Warrior an die Grenzen seines Selbstvertrauens auf dem Bike führen kann! Und ach ja: 3500 Kalorien waren bereits verbrannt und ich habe viel zu spät begonnen, nachzutanken. Der Klassiker.
Irgendwann waren wir dann da: Vor uns lag ein wunderschönes Auf und Ab entlang der Dörfchen. Durch Weiden und Wiesen wurden wir sanft wieder ins Tal geschaukelt, immer in Richtung Villach, durch ein Moor. Wo schließlich in der Nähe des Faaker Sees die zweite Labestation auf uns wartete.
An den Schnaps wagte ich mich nicht, sehr wohl jedoch an die Wild-Würstchen und andere lokale Spezialitäten – darunter auch Bier. Und nachdem es bereits nach 4 Uhr war, ich einiges an Zeit mangels Skills auf der Strecke haben liegen lassen und einige auch kein Licht dabei hatten, beschlossen wir, eine neue Sekt-Flaschengröße einzuführen: die 1,25 Liter Flasche.
Wir planten unsere Route um und machten uns ohne einen Schlenker entlang der Karawanken auf den Weg zurück nach Velden. Ich bekam noch dazu einen Profi-Tipp: die Gravel-Routen, die Komoot einem vorschlägt, seien zu langweilig. Viel besser wäre es hingegen, einfach einen Routen-Vorschlag für MTBs zu holen. Gesagt getan!
Unsere Route hatte noch einmal einen Schlenker auf die Strecke der UCI-Straßen-Weltmeisterschaften 1987 dabei und führte uns dann über den verwurzeltsten Trail meines Lebens. Meinen Witz, wir würden über den Wurzelpass fahren, fand der Rest der Gruppe auf den klappernden Rädern mit den klappernden Helmen begrenzt witzig.
Die Schönheit des Waldes, durch den wir fuhren, war jedoch atemberaubend: Von meinen Heim-Strecken bin ich oft Nutzwald gewohnt, der mehr an den dunklen Wald in Harry Potter als an ein idyllisches Naturspektakel erinnert. Nicht so hier!
Und dann war sie da: Die Straße, die uns zurück zum Hubertushof und hin zum köstlichen Finisher-Bier führte. Später als erwartet, denn bei der Umrechnung von Rennrad- auf Gravel-km/h-Schnitt tue ich mir bis heute leider schwer. Nächstes Jahr werde ich früher los fahren, denn ich möchte mir möglichst viel Zeit nehmen, die vielen kleinen und großen Highlights der Strecke zu entdecken!
Ja, ich war erledigt, aber mit Kasnudeln, einer gründlichen Duschen für mein Rad und einer kurzen Erfrischung für die Fahrerin waren die Lebensgeister wieder geweckt! Bei der anschließenden Preisverleihung blickte ich in viele zufriedene Gesichter, lauschte aufmerksam den Erzählungen der anderen und knüpfte neue Freundschaften.
Preisverleihung? Es war doch kein Rennen? Richtig, ausgezeichnet wurde zum Beispiel “Der mit dem Wolf tanzt” – der Fahrer mit der kürzesten Bib, der sich bestimmt einen Wolf gerieben haben muss. Oder Steph, die aus Seattle die weiteste Anreise hatte.
Und wenn es nach mir ginge, könnten die Preise bei vielen anderen Events auch so vergeben werden – denn wir Fahrer:innen mit gebogenem Lenker nehmen uns gerne mal zu ernst. Samma sich ehrlich!
Resümee Jeroboam: Ein Event, dass von Orga über die Streckenauswahl bis hin zur Community für jeden etwas bereit hält und einen schönen Ausklang für die Saison garantiert. Und vor allem eins mit einem macht: Lust auf mehr!
Die Motivation, die mir klassische Straßen-Rennen zuletzt nicht mehr geben konnten, habe ich hier auf der Strecke wieder gefunden. Den Winter über werde ich trainieren, was das Zeug hält! Nicht schneller, weiter, besser. Sondern mutiger, selbstbewusster, “nicht-ausklickender” ist das Motto – und dafür bin ich dankbar. Denn wenn die Motivation für das schönste Hobby der Welt fehlt, dann fehlt einem irgendwann ein Stückchen von einem selbst. Offenbar hatte ich es im Wald verloren!
Wer nach dem persönlichen Erfahrungsbericht nun auch Lust hat, ein Stückchen von sich selbst mit dem Gravel-Bike (wieder) zu entdecken, für den gibt es Ende November noch ein Jeroboam auf Mallorca. Und Kärnten freut sich mit drei neuen Strecken im nächsten Herbst auf dich!
PS: 2023 findet Jeroboam Austria aller Voraussicht am 29. und 30 September statt. Start und Tiel wird wieder Velden am Wörthersee sein.
Fotogalerie vom Jeroboam Austria
Fotos: Martin Granadia, Nora Turner