Pacing-Strategie für Rennrad-Marathons und Gravel-Rennen

21.06.2023
Ötztaler Radmarathon

Wer bei einem Rad-Marathon oder einem Langstrecken-Event das Optimum aus sich herausholen will, sollte sich eine Pacing-Strategie zurechtlegen. Gerade dann, wenn er nicht gegen andere sondern gegen sich selbst fährt.

Um die Energie im Rennen clever in Vortrieb verwandeln will, muss der Sportler folgendes wissen: Zum einen muss er seine „Pace“ kennen, also seine Ausdauerleistungsgrenze für genau diese Anforderung. Zum anderen muss er diese „Pace“ dann auch exakt steuern können.

„Ich habe keine Kraft mehr gehabt“ oder „ich war völlig platt“. Das hört man von vielen Teilnehmern nach einem Event wie einem Rad-Marathon , wenn sie über ihren Leistungseinbruch sprechen. „Ich hätte einfach mehr trainieren müssen“, fügen sie dann meist als Entschuldigung an. Das ist schon richtig, allerdings liegt das Hauptproblem nicht am Fitnesszustand, sondern darin, dass sie ihre Glykogenspeicher zu schnell entleert haben.

Sprich: Es wurde über die „eigenen Verhältnisse“ Leistung erzeugt. Die Folge: Der Mann mit dem Hammer schlägt zu! Denn Leistungseinbrüche bei Ausdauerwettkämpfen wie Rennrad-Marathons oder Gravel-Rennen haben immer etwas mit misslungenem Energiemanagement zu tun. Oder anders ausgedrückt mit falschem energetischen Pacing. Denn es kann nun mal nur das verfeuert werden, was als Glykogen in Muskulatur und Blut vorhanden ist. Je ökonomischer ein Sportler damit umgeht, desto sicherer fährt er dem Zielstrich entgegen.

Pacing-Strategie: Dem Mann mit dem Hammer keine Chance geben

Der Mann mit dem Hammer ist für Ausdauersportler neben dem inneren Schweinehund der härteste Rivale. Während er den Marathonläufer meist zwischen Kilometer 25 bis 30 heimsucht, kommt er beim Radfahrer je nach Leistungsvermögen und Intensität so nach 4 bis 6 Stunden. Warum? Weil dann die Speicher leer sind und die Muskeln ohne den richtigen Treibstoff nicht mehr so wollen, wie sie zu Beginn mal konnten.

Was also tun? Klar mehr Energie aufnehmen und dem Mann mit dem Hammer einfach den Stinkefinger zeigen und davon fahren! Wenn es doch so einfach wäre, denn die Treibstoffaufnahme ist endlich und der Verbrauch extrem abhängig von der Intensität. Um das zu verdeutlichen, hier der Zusammenhang zwischen Kohlenhydrate und Energieverbrauch.

Pacing: Hohe Intensitäten kosten viele Kohlenhydrate

„Fahren an der individuellen anaeroben Schwelle verbraucht je nach Athlet 200 bis 250 Gramm Kohlenhydrate pro Stunde“, erklärt Sportwissenschaftler Björn Geesmann vom Trainingsinstitut HYCYS. Zugeführt werden können 80 bis 90 Gramm Kohlenhydrate. In Ausnahmefällen auch mehr.  „Die Aufnahme dieser Menge sollte dann vorher aber speziell trainiert werden und auch die richtige Kohlenhydratquellen – sogenannte multitransportable – gewählt werden, ein Mix aus Glukose und Fructose“, so Geesmann.

Das entstandene Defizit muss dann aus den im Körper bereits gespeicherten Vorräten ausglichen werden. Hier geht man bei einer optimalen Beladung – Stichwort Carboloading – von 300 bis 400 Gramm aus; abhängig von Trainingszustand und Körpergewicht. „Allerdings können wir die Tanks nicht komplett leer machen, der Schutzmechanismus des Organismus hält als Überlebensstrategie immer noch etwas zurück,“ so Geesmann. Daher sollte man rund 100 Gramm als überlebensnotwendige Reserve wieder davon abziehen.

Pacing-Strategie: Kohlenhydrate zählen lohnen sich

Wer – zugegeben theoretisch – mit voller Ladung zwei Stunden an der Schwelle fährt, um beispielsweise einen längeren Alpenanstieg zu bewältigen, kann bestenfalls auf 480 Gramm Kohlenhydrate zurückgreifen, verbrennt aber zwischen 400 und 500 Gramm.

Am zweiten Anstieg würden dann beim körpereigenen Tank die Reserveleuchte aufblinken. Nachtanken ist aber nicht möglich. „Die Kohlenhydrate gelangen unter Belastung zwar ins Blut, aber nicht mehr in die Speicher der Muskulatur“, so Geesmann. Das bedeutet: Sind die körpereigenen Speicher einmal leer, kann nur noch mit den 90 Gramm gefahren werden – also im Sparmodus.

„Was wie ein großes Rechenexempel klingt, ist auch eines“, sagt Geesmann, der Profis wie auch Hobbysportler in puncto Training und Ernährung betreut. Während sich ein Zeitfahrer aufgrund der kurzen Dauer seines Wettkampfs an der absoluten Leistungsgrenze bewegen kann, muss eine Pacing-Strategie beim Marathon oder einem Langstrecken-Event immer von der Energieversorgung in Relation zur Leistungsabgabe gesetzt werden.

Und jetzt wird es richtig tricky. Der Kohlenhydratverbrauch steigt zur Leistung exponentiell an – ähnlich dem Luftwiderstand. „20 Watt über der Schwelle können schon richtig Körner kosten – das kann dann auch einen Mehrverbrauch von 50 Gramm pro Stunde bedeuten“, so Geesmann. Das ist der Grund, warum viele Marathonisti hintenraus einbrechen. Der erste Anstieg wird im Überschwang der Gefühle einfach zu schnell angegangen – da ist „Wattwandern“ dann schon sinnvoller.

Die Lösung: Langsamer fahren beziehungsweise sich eine Pacing-Strategie zurechtlegen, die genau den Zusammenhang zwischen eigener Leistung und Energieaufnahme berücksichtigt. Dazu muss man aber wissen, wo die eigene Schwellenleistung liegt oder noch besser wissen, wie sich das Treibstoffgemisch bei welcher Intensität zusammensetzt.

Denn der Körper zieht sich ja auch Fette, die er zur Leistungsentwicklung verbrennt. Allerdings nimmt der Anteil des Fetts an der Energieversorgung auch mit zunehmender Intensität ab. Wer genau wissen will, wie sich das Verhältnis seines Kohlenhydrat und Fettverbrauchs bei welcher Intensität zusammensetzt, sollte in einem qualifizierten Labor eine ganz spezielle komplexe Leistungsdiagnostik absolvieren.

Mittels anaerober und aerober Testverfahren ermittelt dieser aufwendige Check die Energiebereitstellung von Kohlenhydraten und Fett im Verhältnis zur Leistung bei unterschiedlichen Intensitäten. Die Ergebnisse ermöglichen es dann, eine Pacing-Strategie abzuleiten.

„Eigentlich ist es ein Rechenexempel, wenn man alle Werte kennt“, erklärt Geesmann, der schon für Ironman-Triathleten, Radmarathon- und Brevet-Fahrer sowie Race Across America-Finisher solche Pacing-Strategien erfolgreich erstellt hat. Dann ist es wie der Bordcomputer beim Auto, der genau anzeigt, wie viel Sprit noch im Tank ist und für wie lange dieser bei der momentan gefahren Intensität ausreicht.

Pacing beim Marathon: Unterhalb der Schwelle fahren

Generell lässt sich sagen, dass gerade bei Wettbewerben, die länger als 4 bzw. 5 Stunden dauern, Tempo beziehungsweise die Intensität unter der individuellen anaeroben Schwelle liegen muss. „An der besagten Schwelle kann man als Faustregel sagen, dass hier zu fast 100 Prozent Kohlenhydrate verbrannt werden“, so Geesmann.

Auch der Rat einiger Experten, lange Anstiege im Bereich der Schwelle zu fahren, ist falsch. „Ein Profi könnte das energetisch machen, aber der fährt ja auch nicht mit 9 bis 12 km/h einen Hochgebirgspass hoch, sondern mit 16 bis 20 km/h . Dementsprechend verbrennt er nicht so lange Kohlenhydrate“, erklärt Geesmann. Selbst die Top-Fahrer fahren keine 30 Kilometer-Anstiege konstant über ihrer Schwelle.

Doch was macht jetzt ein ein schwerer nicht komplett austrainierter Fahrer, der beim typischen Fahren am Berg seine Schwellenleistung treten muss, um überhaupt vorwärts zu kommen? „Defensiv fahren und gerade in den Abschnitten, die weniger Leistung erfordern, Energie sparen. Wer um diesen Umstand weiß, rollt beispielsweise bis zum Berg einfach im unteren Grundlagenausdauerbereich mit. Und steckt seine Nase überhaupt nicht in den Wind. Sollte selbiger dann doch mal von vorne kommen, muss dann halt die Unterlenkerposition eingenommen und aerodynamisch günstig Energie gespart werden.

„Zugegeben ist ein flacher Marathon wie die Mecklenburger-Seenrunde oder die Vätternrundan einfacher zu fahren. Durch die Topographie kommt es nicht zu solchen Leistungsspitzen wie bei den steilen Rampen im alpinen Gelände kommt“, erklärt Geesmann. Steuern lässt sich die Intensität am besten über einen Leistungsmesser da es bei der Herzfrequenz nach mehreren Stunden zu einem Pulsdrift kommt. Das bedeutet, die Herzfrequenz steigt bei gleicher Leistung etwas.


Bei aller Pacing-Strategie bleibt trotz die Erkenntnis, dass pro Stunde bis zu 90 Gramm Kohlenhydrate aufgenommen werden sollten. Auf einen Marathon, der glatte 10 Stunden dauert, sind das hochgerechnet 900 Gramm Kohlenhydrate. Die stecken beispielsweise zusammen in folgendem. Circa 9 Gels (je 40 g), 8 Riegel (je 55 g), 10 Isodrink-Flaschen (je 500 ml). Eine unvorstellbare Menge und so kaum zu konsumieren.

Ernährung beim Marathon: Sensorische Sättigung berücksichtigen

„Unser Organismus macht uns hier auf die Dauer einen Strich durch die energetische Rechnung. Ganz abgesehen von eventuellen Magen-Darm-Problemen verweigert er die Nahrungsaufnahme wegen der sensorischen Sättigung“, erklärt Björn Geesmann. Einem „Umstand“, der uns davor schützt, zu viel zu essen. Eigentlich clever, doch leider bei Ausdauerwettkämpfe hinderlich.

Diese sensorische Sättigung besagt, dass wenn man zu viel von dem gleichen Stoff isst, schneller satt ist und man keinen Appetit mehr drauf hat. Generelle ist die Süße bei der Sporternährung das entscheidende Problem. „Ob Riegel, Gel, Shots oder Drinks – eigentlich schmeckt alles gleich. Es hat nur eine andere Konsistenz“, erklärt Björn Geesmann.

„Daher sollte man versuchen, in regelmäßigen Abständen von süß auf salzig zu switchen“, erklärt Geesmann. Und auch so viel wie möglich klassische Nahrung aufnehmen. Ob Obst, Fruchtpüree, belegte Brötchen, Brühe mit Nudeln – entscheidend ist, wo bekommt der Sportler es.

Um nichts dem Zufall zu überlassen, lohnt es sich, auf den Seiten der großen Marathonveranstalter einen Blick auf das Angebot der Labestationen zu werfen. Mit diesem Infos lässt sich vorher auszurechnen, welche Speisen wie viel Kohlenhydrate enthalten. Hilfreich bei der Berechnung sind Food-Datenbanken wie fddb.info.

Auch gibt es Hersteller, die der Nachfrage nach Herzhaftem bzw. Salzigem Rechnung tragen. Ob beispielsweise mit Tomaten-Gels oder salzigen Nussriegeln. Wer will kann sich so auch ein Alternativprogramm zusammenstellen oder gleich selbst sich einen Teil seiner mobilen Rennverpflegung selbst zubereiten. Seit Jahrzehnten der Hit im Profi-Peloton ist der Reiskuchen. Dieser liefert viele Kohlenhydrate sowie etwas Flüssigkeit und lässt sich beliebig „würzen“.

Um nicht gleich zu Beginn des Marathontages in die „Süßigkeitenfalle“ zu laufen, rät Geesmann bereits herzhaft zu frühstücken. Profis essen nicht umsonst vor Etappen auch mal Reis und Nudeln. Ein wenig Rührei oder einer Scheibe Käse oder mageren Schinken sollten aufs Brot kommen, anstelle von Honig oder Marmelade. Alternativer Brotaufstrich ist Erdnussbutter, aber hier die salzige Variante.

Vom vielgerühmten Porridge hält Geesmann als Wettkampf-Frühstück ebenfalls nichts. „Da sind in einer Portion kaum mehr als 30 bis 40 Gramm Kohlenhydrate drin. Dafür, dass eine Schale echt satt macht ein schlechte Wahl“, so der Sportwissenschaftler. Denn beim Frühstück dürfen und sollen 200 bis 250 Gramm Kohlenhydrate aufgenommen werden.

Zugegeben eine Menge. Aber mit vollen Energietank und der perfekten Pacing-Strategie soll es dem Mann mit dem Hammer auch schwer gemacht werden, einen überhaupt einzuholen.