Mentales Training für Radsportler: Motivation durch Visualisierung

01.03.2021

Die Profi-Saison ist im vollen Gange. Beinah jeden Tag kämpft die Elite um Siege. Doch wie geht’s weiter mit den Jedermann-Events und Hobbyrennen? Einige sind für dieses Jahr schon abgesagt, andere auf einen späteren Zeitpunkt der Saison verschoben – genaues weiß man nicht. Doch wie können sich Hobbysportler trotz dieser Ungewissheit motivieren, um überhaupt wieder ins Training einzusteigen oder weiterhin am Ball zu bleiben? Darauf gibt der Hamburger Psychologe und Mentaltrainer Stefan Westbrock Antworten.

Zugegeben die Situation ist verzwickt. Auf einen Wettkampf hin zu trainieren, von dem man nicht weiß, ob er in diesem Jahr überhaupt noch stattfindet beziehungsweise wann, fällt vielen schwer. Übrigens Profis genauso wie Hobbysportlern. Die Motivation leidet enorm, es gibt keinen richtigen Fokus und der Biss, sich zu quälen, ist schon gar nicht vorhanden. Denn: für was überhaupt?

Stefan Westbrock, Diplom-Psychologe, Coach und Sportmentaltrainer aus Hamburg, kann diese Gefühle durchaus nachvollziehen. „Es fehlt vielen das Bild vor Augen – und das ist aber auch schon die Lösung“, erklärt er beinahe entschuldigend.

„Ich empfehle da immer ganz gerne, die sogenannte Visualisierung einzusetzen“, so Westbrock weiter. Denn mit der eigenen Vorstellungskraft zu arbeiten beziehungsweise diese einzusetzen kann enorm helfen. Bilder setzen letztendlich Emotionen frei. „Wenn wir uns ein Bild ansehen, auf denen Menschen zu erkennen sind, dann fühlen wir in der Regel auch etwas. Das beweisen uns auch Hirnscans“, erklärt Westbrock.

Motivation durch Kopfkino

Diese inneren motivierenden imaginären Bilder können wir mit etwas Fantasie und Anleitung selbst erzeugen: Bei der Visualisierung gilt grundsätzlich: Je größer das Bild gemacht wird und je farbiger es im Kopf ausgestaltet wird, desto stärker sind seine emotionalen Auswirkungen auf uns.

„Letztendlich wird es auch gar nicht bei einem Bild bleiben, es wird ein kleiner Film oder ein Clip werden, bei dem der Protagonist – also ich – selbst im Mittelpunkt steht“, erklärt Westbrock. Wer beispielsweise jetzt ein Ziel vor Augen hat, wie den Ötztaler Rad Marathon im August, dann hilft es ihm, sich zu überlegen beziehungsweise vorzustellen, wie er sich denn fühlt, wenn er ins Ziel kommt, oder wenn er über den letzten Anstieg gefahren ist und im Endeffekt in Richtung Ziel abfährt.

„Hier helfen einem natürlich schon Eindrücke von Events, die man selbst mal bestritten hat. Oder auch das ist erlaubt: man schreibt sein eigenes Drehbuch und führt Regie, wie es sich im Idealfall anfühlen soll. Hier dürfen dann auch gern Anleihen bei den Profis genommen werden, die über die Alpengipfel und Pyrenäengipfel fahren“, so Westbrock, der diese Visualisierungstechnik zusammen mit vielen seiner Sportler anwendet.

Natürlich bedarf dies etwas Arbeit und auch Zeit, doch es lohnt sich. „Denn immer, wenn ich in einer Krise bin, zweifle oder in einer schwierigen Situation stecke, kann ich diese Bilder mit Geräuschen, Gerüchen und den damit verbundenen Emotionen geradezu heraufbeschwören. Beispielsweise auch bei Trainingsunlust, aber auch anstrengenden Bergfahrten oder intensiven Trainingseinheiten kann der Sportler diese Vorstellungen wieder hervorrufen“, so Westbrock.

Doch jetzt wird natürlich der eine oder andere zu Recht sagen: „Da ist ja noch weit hin bis zum Ötztaler. Da muss ich ja jetzt noch nicht trainieren.“ Darauf erwidert der Psychologe: „Das ist einerseits richtig, andererseits läuft man dann natürlich auch Gefahr, zu spät anzufangen richtig zu trainieren und ärgert sich dann am Ende, dass man das Potenzial nicht ausgeschöpft hat. Das ist natürlich auch extrem typabhängig.“

Westbrock hat ein System namens Visual Questionnaire (ViQ®) mitentwickelt, das über visuelle Wahrnehmung die Persönlichkeit erfasst. Dies hilft den Sportlern selbst, aber auch den betreuenden Trainern, die Motivation der Sportler zu verstehen und auch zu wissen wem wann was guttut.

„Es nützt überhaupt nichts, freiheitsliebenden Menschen Strukturen für ihr Hobby aufzuzwingen. Da bedarf es Überzeugungsarbeit und spielerische Trainingsformen. Denn nicht jeder möchte in Strukturen gefangen sein. Wiederum andere brauchen das und sind geradezu enthusiastisch, wenn sie minutiös die Inhalte der vorgegebenen Trainingseinheit absolviert haben“, erklärt der Psychologe.

Gerade denjenigen, denen es von ihrer der Persönlichkeit eher schwerfällt, strukturiert zu trainieren, sollte sich aber klarmachen, dass auch eine ganz „normale“ Ausfahrt mit Rennrad oder Gravelbike, die sich lediglich nach der Dauer und vielleicht noch nach dem Gesamtenergieumsatz definieren lässt, auch eine Trainingseinheit ist und als solches auch mit einem grünen Häkchen versehen werden darf.

„Wer sich nicht immer nur von Zahlen, Daten und Fakten motivieren lässt, sondern von seinem Gefühl leiten und sicher auch manchmal treiben lässt, kann hier schon viel erreichen“, sagt Westbrock.

Mit motivierenden Bildern den Erfolg vor Augen

Doch für alle, die dann immer noch von ihrer Couch im Wohnzimmer magisch angezogen in der Ritze festklemmen, dem begegnet Westbrock auch wieder mit Gefühl – mit dem der Emotionen. „Wer die Tüte Chips schon intus hat, für den wird es natürlich schwierig. Also sollte er sich überlegen: „Wie bekomme ich meinen morgigen Tag gestaltet, dass ich tatsächlich den Absprung schaffe?“ „Es ist dann wirklich sinnvoll, abends ins Bett zu sinken mit dem Gefühl und den Bildern vor Augen und der Zufriedenheit, dass man den Wettbewerb geschafft hat“, sagt Westbrock.

Sich genau dies vorzustellen, wie es ist, das erreicht zu haben. Und sich dann vorzustellen – im Endeffekt mit der Tüte Chips in den Händen –wie man denn da eigentlich hinkommt.

Der Begriff „Training“ kann bei einigen Stress auslösen

Jetzt folgt der erste Teilschritt – noch auf der Couch. Und zwar sich einfach die Frage selbst beantworten, was einen motiviert, morgen aufs Rad zu steigen. Ganz bewusst. Sich dagegen nicht fragen, was einen motiviert, mit dem Training zu beginnen. „Den Begriff Training würde ich hier gar nicht verwenden, da er wieder indirekt Struktur impliziert und bei einigen auch wieder zu Druck führt“, erklärt Westbrock.

Im Prinzip wendet der Sportler wieder das gleiche an – die Visualisierung. „Ich stelle mir vor, wie es mir morgen nach dem Radfahren geht. Ich habe also einerseits das lange Ziel, da soll es hingehen; andererseits aber auch das kurzfristige Ziel wie fühle ich mich eigentlich nach der Radausfahrt. Wie geht es mir dann? In der Regel werden alle sagen: Mir geht es echt gut! Jeder, der schon mal Sport gemacht hat, weiß eigentlich, wie gut sich das hinterher anfühlt. Belebt, vielleicht ein wenig erschöpft, aber zufrieden“, sagt Westbrock.

Das muss letztendlich einfach visualisiert werden, damit es für den Hobbysportler einen hohen Anreiz hat und lohnend ist.
Stefan Westbrock motiviert sich übrigens genauso, um im Winter in der Kälte morgens um sieben Uhr zu laufen. „Ich will meine Muskeln gut gespürt haben. Ich will das Ausgepowertsein fühlen und die leichte Ermüdung sowie Erschöpfung spüren. Deswegen laufe ich – bei Regen, Dunkelheit und Kälte. Das klappt wunderbar“, so der Psychologe.

Auch wenn die Visualisierung Zeit braucht, wie physisches Training eben auch, so lohnt es sich, da jeder sich sein eigenes Erfolgsfilmchen immer wieder ansehen kann. Entscheidend für die ersten Schritte: „Sich Zeit nehmen, Augen schließen, tief und ruhig atmen und sich dann auf die Bilder konzertieren – das ist effektive Imagination“, erklärt Psychologe und Mentalcoach Westbrock.

Experte Stefan Westbrock, Psychologe und Mentaltrainer

Stefan Westbrock, Herz und Kopf von deepvelop – Institut für Sport und Psychologie, lässt sich qua seines Persönlichkeitstypen gern als „freiheitsliebenden Teamplayer“ beschreiben. Äquivalent zu dem von ihm definierten ViQ-Typen zeichnet sich der Diplom-Psychologe, Coach und Sportmentaltrainer durch Harmonie und der Förderung des Miteinanders aus. Seine Leidenschaft liegt in der Kontaktaufnahme mit Menschen. Dabei lässt er sich von der Philosophie leiten, dass jedes Problem die Lösung schon in sich trägt. Respekt für die Individualität im Menschen ist ihm höchstes Gut. Toleranz und Akzeptanz sind demnach Weg und Ergebnis. Westbrock, der früher erfolgreich Fußball spielte, bildet zudem Sportmentaltrainer aus.
Infos zu ihm und der Ausbildung zum Sportmentaltrainer unter deepvelop.de

Fotos: Shutterstock (Illustration), Henning Angerer / Alpecin Cycling (2)