Mehr Leistung durch Höhentraining – die Wissenschaft dahinter
Training in der Höhe zählt zu den wichtigsten Trainingsmaßnahmen, um Radprofis auf große Ziele wie die Tour de France oder Frühjahrsklassiker in Form zu bringen.
Kristof de Kegel, Sportwissenschaftler und Performance Manager beim Profi-Radteam Alpecin-Deceuninck, erklärt im Interview die Wirkweise sowie die Vorteile und Risiken des Trainings in der Höhe gesprochen. De Kegel erklärt, was Fahrer und Trainer beachten müssen, damit das Training zum Gamechanger wird und in welcher Form Höhentraining auch für Hobbyradsportler empfehlenswert ist.
Warum ist Höhentraining für Ausdauersportler, insbesondere für Radsportler, so wichtig?
Die Höhe bringt den Organismus auf eine natürliche Art dazu, mehr rote Blutkörperchen zu produzieren. Diese werden benötigt, um Sauerstoff über das Blut zu den arbeitenden Muskeln zu transportieren. Diese Sauerstoffzufuhr ist im Ausdauersport, also gerade auch im Radsport, entscheidend. Denn hier hat die Menge und Verfügbarkeit von Sauerstoff in den arbeitenden Muskeln einen großen Einfluss auf die Leistung.
Das bedeutet: Je mehr Sauerstoff der Athlet den arbeitenden Muskeln zuführen kann, desto länger können diese aerob arbeiten. Je länger ein Sportler sich in seinem aeroben Bereich bewegt, desto besser wird seine Leistung am Ende sein und er spart sich die anaerobe Kapazität für den Endspurt.
Bereits nach wenigen Wochen in der Höhe wird eine Vermehrung der roten Blutkörperchen sichtbar, ebenso wie der Anstieg der Hämoglobinkonzentration im Blut. Hämoglobin ist ein Proteinkomplex, aus dem die roten Blutkörperchen hauptsächlich bestehen und der Sauerstoff zu den Mitochondrien, also den Muskelzellen, transportiert. Das bedeutet, dass der Körper nach einem Höhencamp mehr Kapazitäten besitzt, um Sauerstoff zu transportieren.
Reicht die Höhe als Reiz bereits aus oder braucht es auch Training, um diese Anpassungen auszulösen?
Allein die Tatsache, dass man sich in der Höhe befindet, löst eine körperliche Reaktion aus. Für all jene, die keine Spitzensportler sind, reicht es aus, einfach zwei Wochen in den Bergen zu wandern oder 12 Tage lang mit normaler Intensität Ski-Langlaufen zu gehen, um später eine Veränderung im Blut zu sehen.
Für Spitzensportler fließt natürlich auch das Training mit ein. Schließlich werden sie an Wettkämpfen teilnehmen. Aber es braucht keine sehr große Trainingsbelastung, um den gewünschten Effekt zu erreichen. Im Gegenteil! Es ist besser, nicht so viel beziehungsweise intensiv zu trainieren, da die Höhe für den Organismus sehr belastend ist. Als das Höhentraining 1968 „erfunden“ wurde, um die Athleten auf die Olympischen Spiele in Mexiko vorzubereiten, lebten und trainierten sie in der Höhe.
Dieses Konzept „live high, train high“ wird nicht mehr verwendet, da es einfach zu hart für den Körper ist. Die Trainingsqualität leidet zum Beispiel, wenn man konstant über 2 000 Metern bleibt. Der Nettoeffekt auf die Leistung wird nicht groß sein. Aus diesem Grund wurde ein „live high, train low“-Konzept adaptiert. So werden die allgemeinen Effekte des Trainings mit denen der Höhe kombiniert. Die Athleten leben und schlafen zwar in der Höhe, trainieren aber in der normalen Umgebung.
Einige Teams fahren zum Höhentraining in die Sierra Nevada, andere nach Teneriffa, Alpecin Deceuninck geht gerne nach La Plagne. Warum ist das so – und welche Höhenlage ist optimal für ein solches Trainingslager?
Ich denke, das liegt zum Teil an der Logistik und daran, mit wem man trainiert. Einige Teams verbindet mit bestimmten Gegenden eine Historie. Beispielsweise kennen sie die Routen in einem bestimmten Gebiet recht gut. Das Wichtigste ist, dass man immer einen Ort wählt, in dessen Umgebung die Straßen intakt sind und wo die Sportler auf 2.000 bis 2.200 Metern wohnen können.
Wir wissen, dass dies ein ziemlich guter Kompromiss ist, um den Körper zu triggern und sich trotzdem von der Trainingsbelastung erholen zu können. Es macht nicht so viel Sinn, auf einen Berg zu steigen und auf 3.000 Metern zu schlafen, denn dann ist man nach zwei Tagen völlig erschöpft und kann nicht mehr Rad fahren. 18 bis 21 Tage auf 2.000 bis 2.200 Metern sind eine Art Standard-Richtwert für ein Höhentrainingslager.
Wie oft trainieren Sie mit Ihren Fahrern in der Höhe und wie oft kann deren Organismus darauf reagieren und sich an die Höhe anpassen?
Das ist eine interessante Frage und die Herangehensweise hat sich in den vergangenen Jahren im Radsport ein wenig verändert. Im Team haben wir drei große Höhencamps, vor jeder Grand Tour eines. Wir streben 18 bis 21 Tage in der Höhe an, aber die meiste Zeit über machen wir etwa 12 bis 16 Tage am Berg und die Fahrer machen vier bis sechs Anpassungstage zu Hause in einer hypoxischen Kammer oder einem Zelt. So sind sie, wenn sie im Team-Höhentrainingslager ankommen, bereits leicht angepasst. Und das Training mit der Mannschaft kann direkt von Tag eins an beginnen – die typische Eingewöhnungsphase entfällt.
Da die Fahrer bereits durch die Rennen und die damit verbundenen Reisen so viele Tage von zu Hause weg sind, ziehen sie es vor, die Anpassung zu Hause in einem Zelt durchzuführen. Auf diese Weise können sie ein paar Tage länger zuhause bei ihren Familien bleiben. Dann kommen sie in die Höhe und haben ein sehr effizientes zweiwöchiges Trainingslager. So ungefähr organisieren wir die großen Blöcke, aber wir wissen etwas Interessantes aus einigen Untersuchungen und Studien aus den Jahren 2017/2018.
Dort zeigte sich, kurz gesagt, dass unsere Blutzellen ein bestimmtes Gedächtnis haben, das drei bis vier Monate anhält, und wenn man dem Körper innerhalb dieser Zeit einen sogenannten Höhenreiz aussetzt, erinnern sich die Blutzellen des Körpers daran. Einige Proteine sind immer noch niedriger und auf diese Weise wird die Anpassung an die Höhe viel schneller geschehen. Aufgrund des Erinnerungseffekts der roten Blutkörperchen absolvieren die Fahrer oft kürzere Höhenblöcke von vier bis sechs Tagen in einem Höhenzelt zu Hause, um einen kleineren Reiz zwischen den großen Blöcken zu haben.
Ist es richtig, dass das Höhentraining zwei Effekte hat: einen sofortigen nach den ersten Tagen und einen Langzeiteffekt, wenn der Körper adaptiert und sich erholt?
Ja. Aber wie gesagt, die Reaktion der Fahrer ist immer individuell. Im Allgemeinen besagt die Theorie, dass das Risiko einer negativen Leistung, die noch niedriger als vor dem Höhenlager ist, in einem Zeitfenster von vier bis neun Tagen nach der Höhe am höchsten ist. Damit eröffnen sich dem Athleten und seinem Team zwei Möglichkeiten:
Die erste besteht darin, mehr oder weniger sofort Rennen zu fahren. Die meisten Fahrer fühlen sich am zweiten oder dritten Tag nach Ende des Camps gut. Einige sogar sehr gut. Wout van Aert z.B. bestritt vergangenes Jahr zwei oder drei Tage nach seinem Aufenthalt in einem Höhenhotel Mailand-San Remo und wurde Zweiter.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, bis zum 10. Tag nach der Höhe zu warten, um vom Langzeiteffekt zu profitieren. Von da an bis zum 28. Tag werden die Sportler wahrscheinlich auf einem sehr guten Niveau sein. Der Sportler und sein Coach müssen herausfinden, was für individuell am besten funktioniert. Dafür braucht man Erfahrung.
Müssen Fahrer auch ihre Ernährung und Nahrungsergänzung anpassen, wenn sie in einem Höhenlager sind?
Die Höhe ist eine anspruchsvolle Umgebung für den Organismus. Dieser ist zwar anpassungsfähig und lernt damit umzugehen. Wenn man jedoch zusätzlich zur Höhe eine Trainingsbelastung hinzufügt, muss man genau überlegen, was der Organismus in dieser speziellen Umgebung mit geringerem Sauerstoffgehalt benötigt, um sich so gut wie möglich anzupassen. Die Ernährung und Nahrungsergänzungen sind äußerst wichtig. Wir müssen sicherstellen, dass der Organismus genug Eisen zugeführt bekommt, da es für den Aufbau neuer roter Blutkörperchen unerlässlich ist. Und „genug“ in der Höhe bedeutet mehr als ein normaler gesunder Mensch.
Zudem müssen wir B-Vitamine, die auch Bausteine für rote Blutkörperchen sind, sowie ein wenig Zink substituieren.
Im Übrigen müssen wir auch die Flüssigkeitszufuhr genau im Auge haben. Diese ist sehr wichtig in der Höhe. Einfach ausgedrückt, braucht der Körper aufgrund des niedrigeren Luftdrucks, des Atemprozesses und der Reaktion der Nieren mehr Flüssigkeit. Wer seine Flüssigkeitszufuhr nicht anpasst, wird nach ein paar Tagen in der Höhe chronisch dehydrieren. Um dies zu vermeiden, überprüfen wir das Gewicht des Fahrers jeden Morgen sowie jeden Tag nach dem Training, um zu sehen, ob er noch im Gleichgewicht ist.
Brauchen die Fahrer auch mehr Kohlenhydrate in der Höhe?
Ja. Sie haben auch eine Verschiebung des Energieanteils während eines Höhencamps. Ein Profi verbrennt in der Regel bei einer Geschwindigkeit von 30 km/h hauptsächlich Fett. Aber die Fettverbrennung braucht viel Sauerstoff. Wenn Sie sich auf einem Berg befinden, gibt es nicht viel Sauerstoff, so dass der Körper früher auf andere Energiesysteme umschaltet, als es die Fahrer gewohnt sind.
Oft fühlen sich Fahrer, die zum ersten Mal in der Höhe sind, völlig erschöpft. Das ist normal. Sie benötigen mehr Kohlenhydrate aufgrund der Verschiebung dieses Systems. Auch das überwachen wir. Abgesehen vom Training, für das der Sportler mehr Energie benötigt, verändert sich auch sein genereller Kalorienbedarf, selbst wenn er nur einen Tag lang mit weniger Sauerstoff in der Höhe verweilt.
Nehmen wir einen 70 Kilogramm schweren Athleten mit einem täglichen Grundkalorienbedarf von etwa 2.000 kcal. Er wird mindestens 500 kcal mehr pro Tag brauchen – ohne Training, nur weil er sich in der Höhe aufhält. Dieser Effekt ist einer der Gründe, warum es Luxushotels mit höhenhypoxischen Zimmern gibt. Man kann dort Urlaub machen und wird abnehmen.
Das bedeutet, dass Sie die Athleten täglich monitoren?
Ja, in diesen Höhentrainingscamps machen wir immer einen morgendlichen Gesundheitscheck, so nennen wir das. Es wird vom Performance Coach durchgeführt – manchmal zusammen mit einem Arzt, wenn es sich um etwas Medizinisches handelt. Aber normalerweise geht es eher um Leistung. Wir führen ein gewisses Monitoring durch, weil es um Daten geht. Zahlen sind nur dann aussagekräftig, wenn man sie langfristig hat. Wir brauchen Baselines, um beispielsweise Trends zu erkennen. Wenn wir genug Daten haben, können wir darüber nachdenken, was zu tun ist. Ein wichtiger Faktor in der Höhe ist die morgendliche Sauerstoffsättigung, das bedeutet, wie stark das Blut mit Sauerstoff gesättigt ist.
Wir checken das über einen Fingerclip oder via Armbänder. Wenn ein Mensch sich auf Meereshöhe befindet und gesund ist, liegt die Sättigung normalerweise zwischen 98 und 100 Prozent. Wer bewusst in die Höhe geht, will diesen absenken.
Abhängig von der Trainingsqualität des Tages ist das Ziel, die Sauerstoffsättigung auf 92 bis 94 Prozent zu senken. So erzielt man eine gute Wirkung. Manche Sportler, die zum ersten Mal in einem Höhenzelt schlafen, sind wirklich ehrgeizig, und sie rufen mich danach an und sagen, dass sie sich völlig kaputt fühlen. Wenn ich sie frage, wie hoch ihre Sauerstoffsättigung ist, antworten sie 88. Wenn man das am Anfang so macht, wird man an diesem Tag definitiv nicht trainieren können. Man wird aufwachen und sich wie bei einer eine Erkältung fühlen. Nicht wirklich krank, aber schwach.
Aus diesem Grund ist die Überwachung der Sauerstoffsättigung zusammen mit Herzfrequenzvariabilität, Morgenpuls, Blutdruck am Morgen sowie dem Flüssigkeitsstatus in Kombination mit dem Gewicht ein sehr wichtiger erster Schritt, damit man eine Vorstellung davon bekommt, ob der Gewichtsverlust ein Ergebnis mangelnder Flüssigkeitszufuhr oder zu niedriger Energiezufuhr ist. Indem wir all diese Dinge zusammenfügen, bekommen wir eine Vorstellung davon, wie wir mit den Fahrern von Tag zu Tag weitermachen können.
Das bedeutet, dass ein Höhentrainingslager auch immer ein gewisses Risiko birgt?
In meinem Team bin ich dafür verantwortlich, die Athleten auf das Höhentrainingslager vorzubereiten, und ich sage den Fahrern immer, was die Höhe mit dem Körper macht, worauf sie achten müssen und was die Risiken sind. Höhentraining erfordert eine Feinabstimmung, und eigentlich kann viel mehr schief gehen als gut. Mein Ansatz, ein solches Camp zu starten, besteht also immer darin, die Höhe die Arbeit machen zu lassen.
Coaching ist immer ein gewisser Prozess und ein bisschen Ausprobieren, und das macht es so interessant. Sie haben Ihren theoretischen Rahmen, und 95 % davon sind richtig, aber die restlichen fünf Prozent bestehen aus ein bisschen Analyse, ein bisschen Versuch und Irrtum, ein bisschen Erfahrung, ein bisschen Raten, ein bisschen Entscheidungsfindung. Das gilt auch für ein Höhenlager.
Profitieren auch Hobbyradsportler vom Höhentraining? Und wenn ja, wie machen sie es ? Es scheint viel Zeit und Geld zu kosten.
Ja, das tut es, wenn sie ein richtiges Höhentrainingslager absolvieren. Ich würde empfehlen, die ersten Schritte mit einem Hypoxie-Zelt zu machen, um herauszufinden, wie der Körper reagiert. Die Preise für hypoxische Zelte sind ganz in Ordnung, sie sind in den vergangenen Jahren gesunken, weil sie mittlerweile weitverbreitet sind.
Viele ambitionierte Hobbyradsportler haben Räder, die 6000 bis 8000 Euro kosten. Ein Hypoxie-Zelt kostet etwa die Hälfte davon und sie werden es für immer haben, während Sie wahrscheinlich nach ein paar Jahren ein Rad ersetzen müssen oder wollen. Der Vorteil für nicht-professionelle Fahrer kann wirklich groß sein. Aber sie müssen es richtig machen. Sie müssen gut informiert sein, oder sie müssen sich an einen Coach wenden, der Erfahrung mit dem Training in der Höhe hat.
Könnte sich das Protokoll für ein Höhentrainingslager für Hobbyradsportler, an dem der Profis orientieren?
Ja, es sollte zwischen 18 und 21 Tagen dauern und in etwa 2.000 Metern Höhe stattfinden: Vorher sollte der Sportler sein Blut untersuchen lassen, um festzustellen, ob beispielsweise seine Eisenversorgung ausreichend ist. Dann sollte er etwa drei Wochen nach dem Ende des Höhentrainingslager, also etwa sechs Wochen nach dem Start, ein weiteres Mal sein Blut untersuchen lassen, um zu sehen, ob der Körper darauf reagiert hat.
Ein Fehler, den man oft bei Fahrern sieht, ist, dass sie drei Tage nach Ende ihres Höhentrainings – ob sie im Hypoxie-Zelt oder auf dem Berg waren, zum Arzt gehen. Sie wollen dann ihr Blutergebnis sehen und sind enttäuscht, dass noch keine Veränderungen sichtbar sind. Der Körper braucht aber Zeit, um zu reagieren.
Manchmal wird man noch keine Veränderung der Anzahl der roten Blutkörperchen oder des Hämatokritwerts feststellen, aber es gibt viele junge rote Blutkörperchen. Wenn deren Spiegel hoch ist, wird innerhalb weniger Wochen eine Veränderung sichtbar sein, da Blutzellen eine Lebensdauer von etwa vier Monaten haben, sie werden ständig erneuert.
Fotos: Team Alpecin-Deceuninck