Fred Whitton Challenge: Großbritanniens härtestes und schönstes Rad-Event
In Deutschland ist die Fred Whitton Challenge nur Insidern ein Begriff. In Großbritannien hat das Jedermann-Event im Lake District längst Kultstatus. 2019 startet das Team Alpecin erstmals bei diesem Rennen, das durch eine atemberaubende Landschaft und über die härtesten Pässe des Vereinigten Königreiches führt.
„Britain’s premier cycle sportive“ – so bewirbt die Fred Whitton Challenge ihr Event. Die Briten vergleichen “The Fred“ ganz gern mit dem Ötztaler und Marmotte, doch wer als Deutscher zu dem Event anreist, fühlt sich eher, als wäre er bei einer großen RTF oder einem Marathon. Familiär und freundlich wirkt das Event. Der Start- und Zielbereich liegt auf einer zweckentfremdeten Viehkoppel und ist nicht von großen Sponsoren-Logos geziert. Es klingt am Morgen des Starts auch nicht ACDCs „highway to hell“ aus kleiderschrankgroßen Musikboxen. Leise, ohne große Töne, fast ein wenig unspektakulär werden die Fahrer auf ihre Entdeckungsreise geschickt. Doch auch ohne den üblichen Rummel und Duft von Massageöl haben die Starter Gänsehaut. Denn die zu erwartende „Challenge“ und die Szenerie des Lake District ist beeindruckend genug. Atemberaubende Landschaften, in der sich klare Seen mit grünen Hügeln, Hochmooren, Schafweiden und kleinen Städtchen abwechseln. Natur pur – in einem der größten Nationalparks Großbritanniens.
Kurz und knackig sind die Auffahrten zu den 12 Pässen
Durch diese einzigartige Kulisse führt die Strecke über 182 Kilometer und 3250 Höhenmeter. „Doch das sind nur die reinen Zahlen. Denn die Höhenmeter summieren sich aus zwölf bemerkenswerten Hügeln, von denen keiner mehr als fünf Kilometer lang ist. Das bedeutet, die Steilheit der Anstiege ist die Herausforderung für Körper und Geist“, sagt Murray Cox, Team Alpecin Mitglied des Jahres 2018. Berge und Seen spiegeln generell den Streckenverlauf wider, wobei die Berge von der Länge betrachtet eher Hügel sind, von der Steilheit jedoch Gebirgspässe überragen. 15 bis 20 Prozent sind auf kurzen Abschnitten keine Seltenheit, in der Spitze sogar über 30 Prozent wie beim gefürchteten Hardknott Pass gegen Ende des Rennens.
„Die Fred Whitton Challenge trägt ihren Namen zurecht, denn sie ist in der Tat eine Herausforderung. Die Route ist typisch britisch, weil die Hügel kurz und steil sind, und der gesamte Kurs ist schon das Resultat unseres schwarzen Humors“, erklärt der in London lebende Cox.
Viele Gründe also, warum „The Fred“ ein Kult-Event geworden ist und die gut 2000 Startplätze jedes Jahr innerhalb kurzer Zeit vergeben sind.
Die perfekte Vorbereitung für das Saisonhighlight L’Etape du Tour
Das Team Alpecin schickte erstmals in seiner 13-jährigen Geschichte eine eigene Equipe ins Rennen, bestehend aus insgesamt sechs britischen Fahrern. Darunter aktuelle Teammitglieder sowie Allstars; letztere sind Fahrer, die in den vergangenen Jahren im Team waren. „Wir wollten auch unseren Hobbysportlern aus Großbritannien ohne großen Anreisestress die Chance geben, vor dem Saisonhighlight L‘Etape du Tour einen adäquaten Vorbereitungswettkampf zur Vorbestimmung zu bestreiten“, erklärte der Sportliche Leiter Jörg Ludewig. Und was konnte es dafür Besseres geben, als die Teilnahme am Kult-Event im Nationalpark Lake District.
Marie-Louise Kertzman, Team Alpecin Mitglied 2019, freute sich auf ein besonderes Wiedersehen: „Ich war hier schon immer als Kind mit meiner Familie im Sommerurlaub“, so die 26-jährige Britin aus Bath.
Die Fred Whitton Challenge feierte 2019 ihr 20-jähriges Jubiläum
Zum 20. Mal fand die Fred Whitton Challenge in diesem Jahr statt – und das Wetter meinte es gut mit Veranstaltern und Teilnehmern: Frühlingshaft frisch am Morgen, bei strahlend blauem Himmel, gingen die ersten Teilnehmer auf die Strecke. Diese teilen sich hier Rad- und Autofahrer, lediglich zwei der steilsten Pässe waren für den Autoverkehr gesperrt. Gegenseitiger Respekt ist hier Ehrensache: keine waghalsigen Überholmanöver der motorisierten Vierradpiloten, kein Gepöbel der muskelbetriebenen Zweiradfahrer.
Während die einen auf der Wiese neben dem Start- und Ziel-Bereich im kleinen Ein-Mann-Zelt campierten, kamen andere erst am Morgen an und den ersten Startern auf der Strecke entgegen. Gemach, gemach – Stress hat hier niemand (ein seltenes, aber umso wertvolleres Gefühl) und am Ende gab es auch keine ausufernde Siegerehrung. Man fährt für und gegen sich, aber nicht gegen andere.
Durch die frei wählbare Startzeit zwischen sechs und acht Uhr zog sich das Feld in kleinen Grüppchen auseinander. Die Strecke führte am nördlichen Zipfel des Lake Windermere vorbei, dem größten natürlichen See Großbritanniens, hin zum ersten Anstieg des Tages – dem Kirkstone Pass auf 454 Metern.
Perfektes Teamwork während des Rennens
„Innerhalb weniger Minuten fanden wir unseren Rhythmus und mit jedem Pedaltritt verschwand meine Nervosität mehr und mehr“, sagte Kertzman, die vorher noch nie länger als 125 Kilometer am Stück gefahren war. Teamwork war den Alpecin-Fahrern in ihren hellblauen Trikots enorm wichtig. „Wir haben vorher beschlossen, so lange wie möglich zusammen zu fahren, was uns auch wirklich half; gerade auf den wenigen flachen Abschnitten konnten wir so gegenseitig vom Windschatten profitieren“, so Nick Mayer aus dem aktuellen Team Alpecin.
Während sich die Rennradfahrer auf dem ersten Teil der Strecke befanden, fuhren die begleitenden Familien und Freunde an die neuralgischen Punkte – zumeist an die Anstiege, um die Sportler anzufeuern und zu verpflegen. So verwandelte sich die Passhöhe des Whinlatter Passes zu einer großen Open-Air-Zuschauer-Tribüne, auf der Tour de France-Feeling herrschte, und einer irren langen Verpflegungsstation. Auch für die Fahrer des Team Alpecin wurde hier ein Buffett aufgebaut. „Wir mussten uns keine Sorgen machen, an den überfüllten offiziellen Verpflegungsstationen anzuhalten, da wir wie die Profis von unserem eigenen Support-Team verpflegt wurden. Für jeden Team-Fahrer wurde das eigene Essen und die persönlichen Trinkflaschen bereitgehalten“, sagte Mayer, der begeistert von der Stimmung dieser Veranstaltung war. „Wahnsinn, wie viele Menschen uns vor allem an den Anstiegen anfeuerten, mit Kuhglocken läuteten, uns Glück wünschten. Sogar Autofahrer, die wegen uns im Stau standen, hupten freundlich und jubelten uns aufmunternd zu – die Unterstützung von so vielen Menschen war überwältigend“, so Mayer weiter. Die Radfahrer gaben es auf ihre Weise zurück und bedankten sich bei den Fans mit aufrichtigem Kopfnicken, einem „Thank you“ oder applaudierten zurück.
Der Hardknott Pass ist der härteste Anstieg im Vereinigten Königreich
Nach dem Whinlatter Pass war zwar die Hälfte des Rennens geschafft, aber nur von der Distanz, nicht von der Schwierigkeit, denn die harten Brocken hatten sich die Veranstalter bis zum Schluss aufgehoben. Vom Whinlatter bis zum Hardknott Pass – auf einer Distanz von über 60 Kilometern – wurde die Straße nicht mehr richtig flach, unterbrochen noch von den zwei Anstiegen Fangs Brow und Cold Fell auf knapp 300 Meter. „Das Leiden begann hier richtig“ sagt Cox, aber die Party auf dem Cold Fell war wie jedes Jahr eine willkommene Abwechslung und ließ den Schmerz vergessen. Für gerade mal gut eine Stunde Fahrzeit, denn dann stellte sich den Fahrern der legendäre Hardknott Pass in den Weg. Dieser Anstieg ist geradezu verschrien in der Szene der Jedermänner. Er gilt als der härteste Anstieg im Vereinigten Königreich – dsozusagen „the King of the hills“. Unten am Anstieg warnte ein Schild vor den Steigungsprozenten. „Als ich hier ankam, glich die Straße einem Schlachtfeld. Überall Fahrer, die wie ich wegen der Steilheit gezwungen waren, abzusteigen und hochzukraxeln,“, sagt Cox. Manch einer war froh, das Rad als Stütze zum Festhalten zu haben. „Es gibt kein anderes Wort, das den Hardknott Pass besser beschreibt als brutal. Er ist lang, steil und zum Stoff von Legenden geworden, weil so viele Fahrer absteigen müssen. Und wenn ich steil sage, dann meine ich es so: Die Straße erreicht teilweise 33 Prozent“, so Cox, der im vergangenen Jahr mit dem Team Alpecin die L‘Etape du Tour finishte.
Auf den Spuren der Römer wandelten und wanderten die Fahrer hier bergauf, davon zeugen die Überreste eines Forts aus dem zweiten Jahrhundert auf der Passhöhe. „Als diese grausame Schlacht geschlagen war, folgten der Wynrose Pass und Blea Tarn, letzteres eine Neuerung im Parcours. Glücklicherweise kam nach dem letzten Stich eine tolle Abfahrt und eine schnelle sowie flache Route zurück ins Ziel nach Grasmere“, so Cox.
„Das schönste Radsportwochenende meines Lebens“
„Als wir die Ziellinie überquerten, war das Gefühl der Freude überwältigend. Ich hatte etwas erreicht, von dem ich mir vorher selbst gesagt hatte, dass es unmöglich sei. Es ist eine Lektion und eine Erfahrung, die mir ein Leben lang bleiben wird“, sagte Kertzman im Ziel, die sogar noch genug Energie für ein Tänzchen mit ihren Teamkollegen hatte. „Es gab so viele ‚Wow‘-Momente unterwegs wie die Fahrten durch die malerischen englischen Dörfer, die Abfahrten hinunter zu den ruhigen, kristallklaren Seen oder das Klettern hinauf in die Hochmoore. Das alles ließ die Zeit schnell vergehen.“, so Mayer, der wie seine Teamkollegen auf der Strecke öfters nach der Idee des Team Alpecins und den Profis der Equipe Katusha Alpecin gefragt wurde. „Was für ein unglaubliches Erlebnis! Alpecin hat ‚Wellen geschlagen‘ im Lake District– ich bin stolz auf uns alle, sowohl auf uns Fahrer als auch das Team hinter dem Team, das das hier alles ermöglich hat“, sagte Michael Rammell aus dem Team Alpecin 2019.
„Das bislang schönste Wochenende, an dem ich Rad gefahren bin“, ergänzte Mayer beim gemeinsamen Abschlussabendessen und fügte hinzu: „Es muss schon etwas ganz Besonderes sein, um das hier zu übertreffen.“
Für viele der Teilnehmer war es der zugleich schwerste und schönste Tag im Sattel – und die meisten von ihnen werden mit ihren Familien und Freunden wiederkommen, denn nicht nur die Strecke, die Organisation – ein ausbalancierter Mix aus Eigenverantwortung und logistischem Support – , sondern auch die Kameradschaft unter den Fahrern und Fans ist hier etwas ganz Besonderes. Darüber hinaus wandern die Erlöse aus Startgeldern, Getränke- und Essensangeboten sowie Souvenirverkäufe in einen großen Charity-Pott, aus dem gemeinnützige Organisationen unterstützt werden. Allein in diesem Jahr kamen so mehr als 207 000 britische Pfund zusammen!
Fotos: Mick Kirckman
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