Tre Cime di Lavaredo: eine Giro-Reportage von Journalist Fabio Genovesi

24.05.2023

Der Schriftsteller und Journalist Fabio Genovesi begleitet für die italienische Tageszeitung Corriere della Sera den Giro d‘Italia im Jahr 2013. Allerdings nicht als rasender Sportreporter, sondern als reisender Journalist. Neben tagesaktuellen Reportagen entstand dabei ein literarisches Tagebuch beziehungsweise Roadbook, dass viel über Land und Leute und deren Faszination für den Giro preisgibt, den Sport aber dabei nie vergisst. Im Frühjahr diesen Jahres kam es auf Deutsche übersetzt im Covadonga-Verlag auf den Markt und trägt als Buch den Titel „In meinem Herzen alles Sieger“.

Alpecin Cycling veröffentlicht das 25. Kapitel über die 20. Etappe des Giro d‘Italia  – mit freundlicher Genehmigung des Covadonga Verlages, in dem das Buch auf Deutsch erschienen ist.

Buchkapitel: Ich liebe einen Adler
25. Mai, zwanzigste Etappe: Silandro–Tre Cime di Lavaredo

„Die Bitterkeit der ausgefallenen Etappe schwindet ein bisschen, als wir ins Auto steigen und auf direktem Wege nach Meran fahren – wo es mir sehr gut gefällt, man kurvt durch die engen Straßen des Örtchens, schaut sich die hohen Kirchen und die alten Häuser mit Spitzdächern an und kommt sich vor, als wäre man mitten in einem Horrorfilm gelandet, der in Transsilvanien spielt.

Nun gut, ich war noch nie in Transsilvanien, und meine rumänischen Freunde sagen mir immer, dass nichts dran ist an den Gerüchten, trotzdem gibt mir Meran dieses Gefühl, und meiner Meinung nach gehören Gefühle, die dafür sorgen, dass es uns gut geht, gehegt und gepflegt, wen interessiert es da schon, ob sie wahr sind.

Wegen Schneefalls verkürzte Giro-Etappe

Gestern hat der Schnee die lange Etappe mit Gaviapass und Stilfser Joch boykottiert, heute überlebt das Rennen schrecklich verstümmelt, ohne die drei schweren Pässe Costalunga, San Pellegrino und Giau. Nur der Schlussanstieg bleibt, die legendäre und furchtbare Kletterpartie hinauf zu den Tre Cime di Lavaredo.

Es handelt sich um die letzte echte Etappe des Giro (die morgige nach Brescia ist mehr als alles andere eine Feier), und ich und Enzo wollen sie so gut es geht genießen. Das 3.500 Kilometer lange Rennen neigt sich dem Ende entgegen – mit unserem Auto haben wir sogar schon mehr als 8.000 Kilometer zurückgelegt –, und trotzdem strotzen wir noch immer vor Abenteuer und lechzen nach eben diesem.

Zur Mittagszeit halten wir am Streckenrand, um ein Brötchen mit Würstchen und Kraut zu essen, dann fahren wir weiter, mit einem auf volle Lautstärke aufgedrehten und auf einen lokalen Sender eingestellten Autoradio, das uns typische Lieder der Region schenkt. Die sind praktisch identisch mit der volkstümlichen Tanzmusik, wie sie das Orchestro Casadei spielt, aber mit einem schallenderen Akkordeon, Marschrhythmus und Texten auf Deutsch, die beinahe alle von der Schönheit, der Liebe und den Dolomiten handeln, abgesehen von einem Lied mit einem tragischen Finale, in dem, wenn ich es richtig verstanden habe, zwei Verlobte die Gipfel der Berge erklimmen, sie aber stirbt, wahrscheinlich an Erfrierungen.

Die Arme, man kann es beinahe nachempfinden, wir haben Mitte Mai und das Thermometer zeigt uns immer wieder Temperaturen, die sich um den Nullpunkt herum bewegen, in einer weißen Landschaft mit zugefrorenen kleinen Seen und Schneeflocken groß wie zusammengeknüllte Papiertaschentücher, die irgendein Engel mit Erkältung aus dem Himmel herunterschmeißt.

Um zumindest den Schlussanstieg zu den Drei Zinnen befahrbar zu halten, fahren seit gestern Abend fünfzehn Räum- und Streufahrzeuge hin und her, und nur dank ihnen kann man zwischen zwei gefrorenen weißen Wänden weiterfahren.

Aber das, was mich noch mehr frösteln lässt, ist die Kleidung der Fans, die meinen und Enzos maritimen Augen wie eine Halluzination vorkommt: Männer, Frauen und Kinder, die fröhlich im Schneegestöber hinaufsteigen, zu Fuß oder auf dem Rad, unbekümmert und scherzend, wie ich damals, als mein Onkel Aldo mit mir den Giro auf der Küstenstraße anschauen ging, mit einem Eis in der Hand und im dünnen T-Shirt.

Zwischen uns und ihnen muss es zwangsläufig einen Unterschied geben, der wirklich physisch ist, auf der Ebene der DNA: So wie wir Küstenbewohner damit prahlen, das Salzwasser im Blut zu haben, läuft durch die Venen dieser Leute vielleicht Frostschutzmittel.

Bergankunft an den Tre Cime di Lavaredo

Meine Hypothese wird zur Gewissheit, als wir endlich am Ziel ankommen, aus dem Auto steigen und uns ein Bergführer mit nichts als einem bis zur Brust aufgeknöpften Flanellhemd entgegenkommt. Das Thermometer zeigt Minusgrade an, und als er sieht, dass ich angezogen bin wie Amundsen, als er den Südpol eroberte (oder wie Scott, als er versuchte, ihn zu erobern, und dabei erfror), sagt der Bergführer zu mir: »Bravo, Sie haben sich richtig angezogen, wo doch heute Nachmittag die Kälte kommen soll.«

Ich drehe mich zu Enzo um und erkenne in seinen Augen den gleichen Horror. Er flüchtet sofort in die Berghütte am Ende der Straße, ich bleibe aber noch ein bisschen hier, inmitten dieses Weiß, das alles bedeckt, die berühmten Zinnen von Lavaredo inbegriffen, die eigentlich zu dritt sind, von denen man heute aber nicht einmal eine sehen kann.

Ich entferne mich von den Menschen und klettere über eine kleine Mauer aus Eis, denn ich muss pinkeln, und die einzige Sache, die mir am Schnee gefällt, ist hineinzupinkeln, im Versuch, etwas zu schreiben. Ich öffne meinen Hosenschlitz und stecke meine eisige Hand hinein, um nach dem zu greifen, was ich brauche, aber auf der Stelle nicht finde, und ich probiere es weiter mit den Augen auf den Schnee gerichtet, auf den Felsvorsprung unter mir, auf die drei gespenstischen Zinnen, die dort vor mir liegen sollten. Und urplötzlich, auf wundersame Weise, sehe ich ihn.

Einen Adler, der durch die Luft fliegt.

Mehrere Male in meinem Leben (fünfmal, um genau zu sein) glaubte ich schon, einen Adler am Himmel gesehen zu haben, aber jetzt ist klar, dass das auf keinen Fall echte Adler waren. Denn wenn du glaubst, einen Adler gesehen zu haben, aber ein kleiner Zweifel bleibt, dass es vielleicht doch ein Falke oder ein Bussard oder etwas anderes war, heißt das, dass es etwas anderes gewesen sein muss. Und wenn du stattdessen wirklich einen Adler siehst, schaust du ihn an, atemlos undmohne Zweifel.

Kraftvoll, groß, riesig, viel größer als reale Dinge, mit Flügelfedern, die sich getrennt voneinander spreizen, wie Finger am Ende von gigantischen Händen. Und vielleicht beleidige ich ihn, indem ich das sage, aber ein Adler im Flug gleicht wirklich einem Menschen, einem märchenhaften Menschen, der die Arme ausbreitet und vom Wind in den Himmel getragen wird.

Ich schaue ihm dabei zu, wie er seine Kreise zieht, auf- und absteigt, ohne einen einzigen Schlag mit den Flügeln zu machen, er lässt sie nur ausgebreitet und sich von der Luft dorthin bringen, wo er hinwill. Ich verharre verträumt auf der Kippe zwischen Bewunderung und Erfrieren, so selbstvergessen, dass ich vergesse, zu pinkeln. Dann sieht der Adler plötzlich etwas unter sich, das ich nicht sehe, begibt sich in den Sturzflug und verschwindet für immer aus meinem Leben.

Eine halbe Stunde lang warte ich darauf, dass er zurückkommt, bewegungsunfähig und besessen von diesem Anblick, verhext, ja, beinahe verliebt. Wenn ich nach Hause komme, will ich zahlreiche Bücher über Adler kaufen und alles über sie wissen, ich will einen Nationalpark besuchen, in dem sich ein Haufen Adler befinden, und einen nach dem anderen anschauen, ich will ein T-Shirt mit einem Adler darauf kaufen und es für immer am Leib tragen, und wenn ich es doch ausziehen muss, möchte ich zumindest einen Adler auf die Brust tätowiert haben.

Ja, so und nicht anders ist es, und in diesem Rausch der Leidenschaft, der mir den Atem nimmt, berührt mich plötzlich sogar dieses komplett weiße und eisige Szenario um mich herum, eingehüllt in eine Stille, die all die Rufe der Fans, die Musik und die Nachrichten aus den Lautsprechern schluckt.

Mir werden die Härte und die Kraft dieser schroffen und unerbittlichen Welt bewusst, einer Welt, in die die Banalität des Alltags nicht vorzudringen vermag und in der nur einzelne wenige Lichtpunkte großer Erhabenheit aufblitzen. Und das, was da unten losbricht, drei Kilometer vor dem Ziel, gleicht wirklich einem Blitz, als Vincenzo Nibali aus dem Sattel geht, den Lenker umklammert und angreift.

Das Giro-Peloton kämpft sich durch den Schnee

Inmitten des Schnees, der das Fahrerfeld peinigt, an einem Tag, der in die Geschichte des Radsports und des organisierten Masochismus eingeht, krümmt der Hai den Rücken und fährt davon. Er fährt davon, um die Leere der gestrigen Etappe zu füllen, die er nicht fahren konnte. Er fährt davon, um zu verhindern, dass sich vereinzelte Dopingvorwürfe das Narrativ dieses Giro einverleiben. Er fährt davon, einfach, weil er der Stärkste ist und es so sein sollte.

Er pumpt in die Pedale, spuckt den Schnee aus, der in seinem Mund landet, kneift die Augen zusammen, um inmitten des Gestöbers den Verlauf der Straße zu erahnen. Und er zieht durch, findet in sich die letzten Energiereserven oder erschafft vielleicht sogar neue, nachdem er alles aus sich herausgepresst hat, denn das ist der Moment, um alles zu geben, jetzt ist da nur noch die Ziellinie, die auf ihn wartet, am Ende eines endlos langen Anstiegs, der schon vor langer Zeit begonnen hat.

Nämlich bereits damals, als er als kleiner Junge von Sizilien in die Toskana zog, wo der Radsport Religion ist. Hier nahmen die Jugendrennen ihren Lauf, die beinezermürbenden Trainingseinheiten, die fürs Talent geopferte Jugend, Schweiß und Muskelkater als Ersatz für Freizeit, Disco und die tausend chaotischen Gefühle der Kindheit, die zwar Blödsinn sind, uns aber so entflammen wie nichts anderes im Leben.

Und wer weiß, wie viele Leute ihn in diesen Jahren gefragt haben: »Vincenzo, für wen machst du das eigentlich?« Nur gibt es dafür keine einfache Antwort, die einzig wahre Antwort sind diese drei Kilometer, die Nibali bis zum Ziel fährt, jetzt, da nur noch so wenig fehlt, jetzt, wo ihn nichts mehr aufhalten kann und nur noch Zeit ist, die Arme zu heben und zu gewinnen.

Vincenzo Nibali gewinnt im Rosa Trikot an den Drei Zinnen

Und während er gewinnt, gewinnen durch eine seltsame Magie auch wir. Wir, die wir dabei sind, auf dem Sofa oder am Straßenrand, und einem anderen Menschen zusehen, der sich für seine ureigenen Ziele abmüht, Ziele, die keinen wirklichen Vorteil in unser Leben bringen, um die man sich also eigentlich nicht scheren müsste. Und doch ist sein Erfolg mit einem Mal auch unsere Angelegenheit, und während er jubelt, brechen auch wir in Freude aus.

Wir jubeln eine Ewigkeit, die von Stoppuhren mit 17 Sekunden bemessen wird, dann kommen die Verfolger an: Evans, bei dem sich der Schnee an den Augenbrauen festklammert, Urán, dessen Gesicht in einer Art Lähmung verzerrt ist, Scarponi, der sich heißen Tee über seine Hände schüttet, die in den Handschuhen gefroren sind und nicht mehr herauskommen wollen.

Hinter ihnen dann die Verspäteten, die Erschöpften, die Domestiken und die Gestürzten. Und am Ende, wirklich ganz am Schluss, die Gruppe der Sprinter, eigentlich gewohnt, in der ersten Reihe zu stehen und sich, um den Sieg zu balgen, aber heute alle gleichgemacht, auf ein und dasselbe Niveau zurückgestutzt im Angesicht des strengen Gesetzes der Berge.

Mark Cavendish am Ende seiner Kräfte

Der Superchampion Cavendish fährt die letzten Meter tatsächlich schwankend direkt neben Edwin Ávila, dem kolumbianischen Neuling, der ganz verwirrt oben ankommt, und vielleicht weiß er nicht einmal, wo er sich befindet. Doch das stimmt nicht, Edwin weiß es sehr gut, und tatsächlich, als er durchs Ziel fährt, hebt er die Arme und schreit vor Freude. Denn auch er hat sein Rennen gewonnen und ist dabei, sich den unmöglichen Traum zu erfüllen, diesen Giro zu Ende zu bringen, den kompletten Giro.

Sie beenden die Etappe und haben nicht einmal mehr die Kraft, die Füße von den Pedalen zu lösen. Zum Glück gibt es jemanden, der herbeieilt, sie in den Arm nimmt, ihnen eine Decke umlegt und sie wie Erdbebenopfer wegträgt. Sie haben über Stunden gelitten und gekämpft an einem fürchterlichen Tag, und nun endlich sind sie da, blau im Gesicht und mit Rotz, der sich über Nase und Mund gelegt hat, komplett erledigt und reif für die Tonne, aber alles in allem glücklich, weil sie ihr Ziel erreicht haben, das da lautet, morgen wieder in den Sattel zurückzukehren, bereit für einen neuen Kampf.

Im Radsport spiegelt sich der Kampf des Lebens

Das ist der Grund, warum wir, nachdem wir mit Nibali triumphiert haben, ein weiteres Mal gewinnen, und noch einmal und noch einmal, immer weiter mit ihnen. Denn während die Fahrer die letzten Serpentinen erklimmen, durch Schnee und Gegenwind, die ihnen ins Gesicht peitschen, haben wir in ihrem Leiden auf dem Rad für einen Augenblick unsere schwersten Tage wiedererkannt, unsere Gedanken und Träume, diese kleinen Teile unseres Lebens, die immer wieder auseinanderzubrechen drohen, bei denen es uns aber doch irgendwie gelingt, sie zusammenhalten, auch wenn der Rest der Welt über uns herfällt und uns fertigmachen will.

Es ist nur ein Rennen, und doch sind es zusammen Hunderte, Tausende, Millionen von Unterfangen, die sich nebeneinander vollziehen, ein jedes mit all seinen Triumphen und Niederlagen.

Also, ja, es mag stimmen, dass Nibali heute gewonnen hat, dass Duarte als Zweiter und Rigoberto Urán als Dritter angekommen ist. Aber in Wahrheit ist die Reihenfolge im Ziel eine andere, eine Reihenfolge, wie sie schon vor vielen Jahren ein Dichter namens Alfonso Gatto beschrieben hat, der sich mit dem Radsport auskannte, obwohl er selbst nicht Rad fahren konnte. Es ist ein sehr einfaches, kurzes und zugleich umfassendes Klassement.
In meinem Herzen alles Sieger.“

Auszug aus dem Buch „In meinem Herzen alles Sieger“ von Fabio Genovesi

erschienen im Covadonga-Verlag
208 Seiten
18 Euro
ISBN: 978-3-95726-075-8
Das Buch kann hier direkt beim Verlag bestellt werden.

Fotos: Katusha-Alpecin / Jojo Harper